Viele Unternehmen beziehen auch unterm Jahr Position, aber noch mehr im sogenannten Pride Month, wenn es darum geht, zu demonstrieren, wie offen und liberal man der LGBTQIA+-Community gegenüber etwa als Brand ist.
Anlässlich des Pride Month bat medianet Julian Wiehl, Herausgeber Vangardist Progressive Queer Magazine und CEO/Founder der Vangardist Agency, zum Interview zur Frage, warum man gerade bei diesem Thema Flagge zeigen sollte und warum man diese Community nicht nur als sogenannte kaufkräftige Zielgruppe betrachten sollte.
medianet: Herr Wiehl, aktuell läuft der Pride Monat – viele Unternehme zeigen Sichtbarkeit etwa bei diversen Pride-Paraden, färben ihr Logo in den Regenbogenfarben ein, und irgendwie hat man das Gefühl, es läuft ohnedies wunderbar. Sind die Unternehmen tatsächlich so Queer-freundlich oder ist es eher eine Art Marketing-Potemkinsches Dorf?
Julian Wiehl: Es ist natürlich sehr begrüßenswert, dass im Pride Monat so viele Unternehmen Flagge zeigen. Ich komme ja selbst aus dem Publishing, wo der Grundsatz gilt, veröffentlichte Meinung ist öffentliche Meinung. Das heißt in diesem Zusammenhang, dass es für die Öffentlichkeit gar keine große Rolle spielt, wie Queer-freundlich die Unternehmen wirklich sind. Sie geben sich nach außen weltoffen und das alleine erzeugt ein positives Klima.
Die Unternehmen sind in erster Linie am Profit orientiert. Der Purpose ist ein Luxus, den man sich gönnt, wenn es wirtschaftlich gut geht und wenn es politisch erlaubt ist.
Ein bekanntes österreichisches Unternehmen, dessen Namen ich hier nicht nennen will, hat letztes Jahr zum ersten Mal sehr erfolgreich an der Vienna Pride Parade teilgenommen, und dieses Jahr hat schon wieder das Budget für eine Teilnahme gefehlt.
medianet: Welche Gründe stecken hinter so einem Verhalten?
Wiehl: Die Unternehmen sind nicht resistent, wenn es zu einem politischen Umbruch kommt. Da ist die weltoffene Haltung schnell in Gefahr. In Ungarn war es plötzlich verboten, sich für die LGBT-Themen einzusetzen, und die ausländischen Unternehmen gaben hier sofort klein bei. Da hat es keinen Streik oder öffentliche Entrüstung gegeben.
Die Corporate World ist sehr von der Angst um den eigenen Job dominiert. Da werden die Ängste jedes Einzelnen schnell gegeneinander ausgespielt. Sie ist ein interessanter Partner für die Anliegen der Menschen, aber keiner, auf den man sich verlassen kann.
Auch was den Trend betrifft, darf man sich nicht in Sicherheit wägen, denn international gesehen erlebt die LGBTQIA+ Community eine Zunahme an Anfeindungen und Rückschritten. In Uganda wurde zum Beispiel gerade ein Gesetz über die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen vom Präsidenten unterzeichnet. 2022 wurden in den USA insgesamt 1.269 Zensuranträge für Bücher mit LGBT-Inhalten gestellt. Das ist ein Anstieg von 75 Prozent in nur einem Jahr. Wir leben also eher in einer liberalen Bubble …
medianet: Sie sagen, Queer muss keine sexuelle Orientierung sein, Was ist es dann?
Wiehl: Bei den Themen Queer oder LGBTQIA+ geht es in erster Linie um Identität. Die Freiheit, so zu sein und die Person zu lieben, wie man will. Bei der Identität gibt es kein Schwarz/ Weiß oder Mann/Frau. Hier geht es um das Entdecken und auch Kreieren seiner eigenen Persönlichkeit abseits der gelernten Rollen. Wir sind ja keine Schauspieler oder Zirkuspferde, sondern sehr vielschichtige Lebewesen, die sich noch immer mitten in der Evolution befinden. Kein uns bekanntes Lebewesen hatte jemals so viel Bewusstsein und Möglichkeit zur Gestaltung wie der heute lebende Mensch, nicht einmal unsere Großeltern. Für diese Entwicklung braucht es einen Safe Space und keine eng gesteckten Denkverbote. Ich bin ja Optimist und sage, wir sind am Weg zu einer neuen Hochkultur.
medianet: Für viele Marketer ist die Community vor allem eine interessante Konsumenten-Gruppe. Sie wehren sich dagegen, die queere Zielgruppe nur unter dem Label ‚kaufkräftig' zu sehen. Sie sagen, es ist weit mehr als das, Was genau ist es?
Wiehl: Die Menschenrechte dürfen sich nicht an der Kaufkraft messen. Wo kämen wir denn da hin? Sie lieben ja auch nicht Ihr Kind mit den besseren Schulnoten mehr als das andere. Wenn Sie das tun, empfehle ich Ihnen eine Therapie.
Diese Haltung ist auch nicht mit der österreichischen Verfassung vereinbar. Denn alle Menschen sind gleich. Und das muss auch für Unternehmen gelten.
medianet: Unternehmen brauchen aber gewisse Parameter, und die Kaufkraft ist sicherlich so einer.
Wiehl: Das Argument der Kaufkraft war am Anfang sicherlich ein Türöffner für die männliche Gay Community, weil Männer statistisch mehr verdienen und in höheren Positionen sitzen. Die sogenannten Dinks – Double Income No Kids – sind naturgemäß eine sehr beliebte, zahlungskräftige Zielgruppe. Aber LGBTQIA+ sind viele Buchstaben, und gerade Transpersonen sind eine kleine, vulnerable Minderheit, die man noch mehr schützen muss, auch wenn sie durch die kleine Anzahl sicher nicht als Marketingzielgruppe identifiziert wird.
Gillette etwa hat sie trotzdem in den Fokus einer Kampagne gestellt und damit weltweit für Schlagzeilen und positive Response gesorgt – sich damit auseinanderzusetzen, ist eben wichtig.
medianet: Trotz der kritischen Haltung gegenüber diversen Kategorisierungen – können Sie uns einige Zahlen nennen? Von was für einem Markt sprechen wir hier?
Wiehl: Die aktuell wichtigste Zahl kommt aus einer Gallup-Umfrage bei 13.000 Personen aus den USA. Demnach identifizieren sich 21 Prozent der Generation Z, also alle, die heute zwischen 13 und 26 Jahre alt sind, als queer. Und diese Gruppe wird nicht weniger, sondern mehr.
medianet: Sie selbst sind als Unternehmer in diesem Feld tätig. Wozu raten Sie selbst Ihren Kunden und warum ist es, wie Sie selbst sagen, quasi zwingend notwendig, eine gewisse Einstellung als Unternehmen einzunehmen, um überhaupt wettbewerbsfähig zu bleiben – Stichwort GenZ.
Wiehl: Die GenZ wird bald den Ton angeben in Sozialen Medien, Pop-Kultur und was gerade angesagt ist. Sie ist sehr stark in der Kommunikation, sehr emotional und hat nichts viel zu verlieren. Diese Kombination gibt ihr noch mehr Kraft, weil Emotionen einfach der stärkste Träger von Informationen sind.
Wer also ein Produkt oder Dienstleistung im B2C-Markt anbietet, kommt da nicht daran vorbei. Und je schneller man sich damit auseinandersetzt, desto mehr fällt man auf.
Louis Vuitton hat schon 2016 seine Damen-Kollektion von Jaden Smith, dem Sohn von Will Smith, präsentieren lassen. Heute würde man Kind statt Sohn sagen, aber damals war er männlich gelesen. Die High Fashion Brands haben das Thema sehr früh verstanden. Die Luxus-Branche hatte auch in der Coronapandemie ein Wachstum von 15 Prozent bei den Jungen am Land. Ich glaube, das spricht für sich.
medianet: Was würden Sie Kunden generell raten?
Wiehl: Den Kunden rate ich, unbedingt aus ihrer eigene Bubble herauszukommen. Wenn Sie heute 50 sind und die Trends nicht durch Ihre Kinder erleben, dann haben Sie, frech gesagt, wahrscheinlich genau so wenig Verständnis für diese Zielgruppe wie Ihre Eltern mit Ihnen in den 80er-Jahren. Wir haben deshalb einen Vortrag mit dem Titel ‚Rainbow is the new black' erstellt, um hier einen Einblick zu geben.
Für alle, die einen Schritt weiter gehen wollen, haben wir das Pride Champion Audit und Arbeitgeber-Siegel der Uhlala Group nach Österreich geholt. In Deutschland lassen sich hier schon die führenden Marken auditieren, um quantitativ zu sehen, wo sie als Unternehmen gerade stehen. Wer über 80 Prozent kommt, bekommt sogar ein Arbeitgeber-Siegel oder eben eine Beratung und Best Practice-Tipps, was andere aus der Branche schon für Maßnahmen getroffen haben.
medianet: Aktuell weht, von den USA kommend, für die queere Community ein eher rauer Wind. Was kann man hier als Unternehmen tun? Sowohl nach innen als auch in der Sichtbarkeit der eigenen Marke?
Wiehl: Ja, in den USA erlebt die Zensur von queerer Literatur ein ungeahntes Hoch. In Florida spricht man sogar von ‚Don’t say gay', weil man das Wort ‚gay' vor Minderjährigen nicht verwenden darf. Dort lehnen sich aber die großen Unternehmen wie Disney gegen diese Gesetzgebung auf – auch, weil sie um ihre guten Mitarbeiter fürchten müssen. Andere Unternehmen drohen in den USA oft mit Abwanderung in einen anderen Bundesstaat, wenn die Gesetze zu bigott und LGBT-feindlich werden. Das funktioniert tatsächlich.
Je größer ein Unternehmen ist, desto mehr fungiert es auch wie ein Staat. Wenn es zu sehr gegen die Interessen der Belegschaft agiert, kann das zu Aufständen führen. Im Gegensatz zu einem Staat kann man ein Unternehmen sehr rasch verlassen, ohne den Lebensmittelpunkt zu verändern.
Unternehmen sollten ein neues Selbstverständnis für ihre Rolle bekommen. Die Politik kämpft um jeden Arbeitsplatz. Als Arbeitgeber hat man hier eine wichtige Karte in der Hand und die muss man gelegentlich ausspielen, damit die Pride-Flagge nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt.
medianet: Zum Schluss – ähnlich wie beim Thema Nachhaltigkeit gibt es leider auch Queer-Washing. Sehen Sie diese Gefahr und woran erkennt man es?
Wiehl: Ja, es gibt überall schwarze Schafe bzw. ist es manchen gar nicht bewusst, dass sie Queer-Washing betreiben. Nachdem ich glaube, dass veröffentlichte Meinung öffentliche Meinung ist, sehe ich das weniger als Problem – im Gegenteil. Man kann die Firmen dann eher beim Wort nehmen und interne Umstrukturierungen erzwingen.
Gefährlicher ist es eher für das eigene Unternehmen, denn heute ist man immer einen Schritt vom Shitstorm entfernt. Und die GenZ ist sehr emotional und verzeiht ein öffentlich gewordenes Queer-Washing nicht so schnell. Das Pride Champion Audit ist aber ein guter Schutz davor, weil man nicht nur etwas vorweisen kann, sondern durch den ganzen Prozess auch ein ganz anderes Verständnis bekommt. Da kann einem ein Queer-Washing fast nicht mehr passieren. (fej/mab)