Eine neue Wirklichkeit
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Nach wochenlanger Aufstachelung mündete die Agitation Donald Trumps im Sturm auf das US-Kapitol.
MARKETING & MEDIA Redaktion 15.01.2021

Eine neue Wirklichkeit

Lügen können – werden sie lange genug und von genügend (einfluss­reichen) Menschen öffentlich wiederholt – eine neue „Realität” schaffen.

Gastkommentar ••• Von Martin Weiss, österr. Botschafter in den USA

WASHINGTON. Die Bilder vom 6. Jänner 2021 sind um die Welt gegangen: ein gewaltbereiter Mob stürmt das US-Kapitol, Polizeisperren werden überrannt, Fenster und Türen aufgebrochen, Journalisten werden bedroht und ihre Kameras zerschlagen, Abgeordnete müssen sich in ihren Zimmern verbarrikadieren.

Ein Polizist wird an diesem Nachmittag ermordet, eine Frau, die so wie Tausende andere an diesem Tag illegal in das US-Kapitol eingedrungen ist, wird erschossen.
Solche Szenen kennt man – aber nur aus Hollywood-Filmen a la „White House Down”. Dass das US-Kapitol tatsächlich überrannt wird, geschah das letzte Mal im Jahr 1814: Britische Truppen drangen damals im Britisch-Amerikanischen Krieg nach Washington vor und setzten dort das US-Kapitol und das Weiße Haus in Flammen.
Das passierte damals freilich mitten in einem Krieg – und ist über 200 Jahre her. Die Vorkommnisse vom 6. Jänner ereigneten sich hingegen an einem scheinbar ganz normalen Jännertag.
Das Besondere an diesem Tag war nur, dass beide Häuser des US-Kongresses unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten in einer gemeinsamen Sitzung zusammentreten sollten, um das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom 3. November 2020 formell zur Kenntnis zu nehmen. Die von den US-Bundesstaaten übermittelten Kuverts mit den entsprechenden „certifications” hätten dabei vom Vizepräsidenten geöffnet werden sollen – eine inhaltliche Prüfung der Ergebnisse steht und stand dem Vizepräsidenten dabei laut Verfassung nicht zu.
Im Vorfeld des 6. Jänner war dieser Tag aber von vielen, die mit dem Wahlergebnis vom 3. November nicht einverstanden waren, zu einer Art „Showdown” hochstilisiert worden. Ein rein zeremonieller Formalakt sollte plötzlich darüber entscheiden, wer nach dem 20. Jänner 2021 vom Weißen Haus aus die Geschicke der USA lenken sollte. Nicht der Wahltag, sondern der 6. Jänner hätte also plötzlich der Tag der Entscheidung sein sollen.

„Fight like hell”

Dass die Präsidentschaftswahl in Wahrheit schon seit Wochen entschieden und Joe Biden als klarer Sieger aus dieser Wahl hervorgegangen war, tat dabei offenbar nichts mehr zur Sache. Denn diese Wahl soll ja „illegitim”, keine Wahl, sondern ein „steal”, ein Diebstahl also, gewesen sein, der gestoppt werden musste.

Es ging am 6. Jänner also um nichts weniger als um die Zukunft der USA, um den Kampf gegen einen angeblich groß angelegten Wahlbetrug, gegen den man sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen musste. Oder, um mit den Worten von Präsident Donald Trump bei seiner an diesem Tag gehaltenen Rede zu sprechen: „We will stop the steal … fight like hell. And if you don’t fight like hell you’re not going to have a country anymore.”
Wir wissen mittlerweile, wie dieser Tag geendet hat: Der Mob wurde nach mehreren Stunden von schrittweise einrückenden Polizei- und National Guard Einheiten aus dem Kapitol verdrängt, der Kongress nahm seine Arbeit wieder auf und noch in derselben Nacht wurde die Wahl von Joe Biden und Kamala Harris formell bestätigt. Ende gut, alles gut?
Das sicher nicht, abgesehen von der Zerstörung und dem Verlust menschlichen Lebens haben die Bilder vom 6. Jänner dem Ansehen der USA weltweit zweifelsohne Schaden zugefügt.

Die Lehren daraus

Aber welche Lehren kann man aus den Vorkommnissen des 6. Jänner ziehen? Zumindest zwei:

Erstens: Auch glatt wahrheitswidrige Behauptungen (z.B. die Wahlen vom 3. November seien ein „steal” gewesen, eine reine Behauptung, die keiner rechtlichen Überprüfung in über 60 Anfechtungsverfahren standhielt) können – wenn sie nur lange genug und von genügend (einflussreichen) Menschen wiederholt werden – eine neue „Realität” schaffen. In einer Umfrage des Economist gaben z.B. 88% der Trump-Wählern an, dass Joe Biden nicht rechtmäßig zum US-Präsidenten gewählt worden sei. Dass das möglich ist, ist traurig, aber wahr. Die Wahrheit gelangt offenbar nicht von selbst ans Tageslicht, es muss um sie gerungen werden. Lügen müssen konsequent als solche aufgezeigt werden, Widerspruch tut not.
Und Zweitens: Worte haben Konsequenzen. Wenn politischer Diskurs durch Hass, Lüge und Anstiftung zur Gewalt vergiftet wird, dann hat das – früher oder später – furchtbare Konsequenzen. Das wissen wir aus der europäischen Geschichte sehr genau.
Im Jahr 1922 skandierten die politischen Gegner des deutschen Außenministers Walter Rathenau solange „knallt ab den Walter Rathenau …” bis schließlich eine Gruppe gewaltbereiter Aktivisten zur Tat schritt und Rathenau auf offener Straße niederschoss. Worte hatten und haben Konsequenzen – damals wie heute. Das darf man nie vergessen.

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