Leitartikel ••• Von Sabine Bretschneider
SPITZFINDIGKEITEN. Im Duden hat dieses Wort (noch) keinen Eintrag, aber im Cambridge Dictionary: „Whataboutism, the practice of answering a criticism or difficult question by attacking someone with a similar criticism” – normalerweise eingeleitet mit „What about …?”. Eine Manipulationstechnik, die von Kritik ablenken soll, indem auf vermeintliche vergleichbare Missstände verwiesen wird.
Rund um den Brand der Kathedrale von Notre-Dame fing auch die Whataboutism-Debatte so richtig Feuer: „Milliardenspenden für eine Kirche – und in Afrika hungern Kinder?” Noch ein Beispiel: „Das ‚Binnen-I' einführen – während noch nicht einmal einheitliche Löhne für Männer und Frauen durchgesetzt sind …?” „Demos für Black Lives – und in Wien werden Obdachlose misshandelt?”
Antwort a) Hat etwas für sich. b) Nein, hat es nicht, weil solcherlei Rabulistik in einer sachlichen, inhaltlich fundierten Diskussion nichts zu suchen hat. Gruppe b hat einstweilen einmal gewonnen. In der von Bild, Video und Kürzesttext geprägten, modernen Kommunikationswelt lernt, wer mitmachen will, besser schnell, dass es Schwarz gibt – und Weiß. Wer auf die Schattierungen von Grau verweist, muss zur Kenntnis nehmen, dass er besser in den Literaturzirkel, Neigungsgruppe „seichte Erotik”, abwandern sollte.
Eine spannende Aufgabe für jene, die ein bisschen zu viel Tagesfreizeit haben, könnte eine vergleichende Analyse von Whataboutism als rhetorisches Ausweichmanöver und dem Sokratischen Dialog als Verschränkung von philosophischer Theorie und didaktischer Methode sein … Kurz: Es ist vielleicht nicht klug, jeglichen Diskurs im Keim zu ersticken, sobald er auch nur ein paar Zentimeter über die vorher festgelegten Ufer tritt. Durchs Reden kommen die Leut zsamm. Und ein schlechter Kompromiss in gutem Einvernehmen ist oft besser als Sieg durch K.o. und Killerargument. Kürzlich gelesen: Jesus sei der Urheber des Whataboutism: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.”