Leitartikel ••• Von Sabine Bretschneider
ARGUMENTATIVER NOTSTAND. Den Satz „Extraordinary claims require extraordinary evidence” („Außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Beweise”) popularisierte US-Astronom und Wissenschaftskommunikator Carl Sagan. Die Aussage wird vor allem in wissenschaftlichen Kreisen verwendet. Je mehr eine Behauptung allem widerspricht, was wir bisher empirisch wissen, desto stärker müssen die Beweise dafür sein. Das ist ein passender Kontext für die Debatten um die US-Zollpolitik. Trumps „Liberation Day”-Zölle, eingeführt unter Berufung auf eine nationale Notlage durch Handelsdefizite, stehen jetzt – spät aber doch – am Prüfstand der Gerichte.
Wirtschaftspolitische Maßnahmen von solcher Tragweite, so das US-Handelsgericht, bedürften einer soliden rechtlichen und faktischen Grundlage. Andernfalls sei es eine unzulässige Ausweitung präsidialer Befugnisse. Ein Berufungsgericht hat die Zölle vorübergehend wieder in Kraft gesetzt. Es folgt der Instanzenweg. Die in der Vergangenheit oft zitierten „Checks and Balances” der US-Politik kriechen nur vorsichtig aus ihren Verstecken.
Diesseits des Atlantiks
Auch die österreichische Regierung beruft sich aktuell, hinsichtlich der aktuellen Änderungen in der österreichischen Asyl- und Integrationspolitik, auf einen nationalen Notstand. Vergangene Woche wurde das geplante Integrationspaket auf den Weg gebracht – mit entsprechenden Sanktionen, Selbstbehalten, Verwaltungsstrafen und Kürzungen der Sozialleistungen. Auch in diesem Fall fehlen bis dato die „außergewöhnlichen (empirisch belegten) Beweise” – zumindest im Rahmen einer potenziell notwendigen Rechtfertigung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Was beide Sachverhalte eint, ist die Verschnaufpause, die den jeweiligen Initiatoren gegönnt ist. Bis die judikative Schneckenpost die letztgültige Entscheidung trifft, darf der demokratiepolitische Wildwuchs weiterwuchern.