••• Von Martin Rümmele
Die Kritik kommt vor allem von den jungen Journalistinnen und Journalisten – und sie richtet sich gegen etablierte Medien. Mit einem offenen Brief wenden sich Journalismus-Studierende der FHWien der WKWien und der FH Joanneum Graz mit Unterstützung der Österreichischen Hochschüler_innenschaft an Vizekanzler und Medienminister Andreas Babler (SPÖ): Die Berichterstattung über den Amoklauf in Graz habe die Notwendigkeit grundlegender Reformen in der österreichischen Medienlandschaft unterstrichen. Es seien Spekulationen angestellt, Opferschutz in Mitleidenschaft gezogen und medienethische Grundsätze missachtet worden.
Der journalistische Nachwuchs sehe sich mit einer Medienlandschaft konfrontiert, „die im starken Kontrast zu dem steht, was ihnen in ihrer Ausbildung vermittelt wird: Ein professioneller, ethisch korrekter und rücksichtsvoller Zugang, der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft trägt”, betonen die Initiatorinnen und Initiatoren des Briefes und berufen sich dabei auf den Pressekodex, Empfehlungen von Experten, den aktuellen Stand der Forschung und ihre eigene Ausbildung.
Kritik vom Medienminister
Babler selbst hatte bereits zuvor in einem ungewohnt scharfen Statement in Sozialen Medien aufhorchen lassen: „In der Berichterstattung der letzten Tage sind viele äußerst bedenkliche bis hin zu verstörenden Handlungen seitens österreichischer Medien gesetzt worden. Videos von den Geschehnissen in Graz wurden geteilt, die Verbrechens-opfer explizit dargestellt, Zeugen belagert, Unbeteiligte verunglimpft. In den ersten Stunden und auch in den darauffolgenden Tagen kam es zur Verbreitung wilder Spekulationen und expliziter Gewaltdarstellung. Die Würde der Betroffenen musste der Sensationslust von Medien weichen. Ihr Leid wurde kommerzialisiert”, schreibt Babler. Fotos und Namen von unbeteiligten und unschuldigen Jugendlichen, die als vermeintliche Täter dargestellt wurden, seien durch das Netz gegangen. „Sie wurden zu Opfern einer Welle des Hasses. Ich möchte in diesem Zusammenhang festhalten: Fehler können passieren. Hetzerische Fake News nicht. Sie werden bewusst gesetzt, um die Reichweite eigener Online-Auftritte zu erhöhen und vor allem, um politische Stimmung zu machen”, kritisiert Babler.
„Krone”-Appell ans Gewissen
Die Medien selbst verteidigten sich in Kommentaren. „Die Wahrnehmung beziehungsweise Erwartung der Leser/User/Hörer/Seher” sei eine höchst unterschiedliche, schreibt Krone-Chefredakteur Klaus Hermann: „Was dem einen zu viel ist, ist dem anderen zu wenig. Letztlich muss vor allem das Gewissen entscheiden. Darf man das Foto des Täters zeigen – das ist eine der Fragen. Wir haben es in der Redaktion ausführlich diskutiert und sind zum Schluss gekommen: Ja! Es besteht ein Interesse der Betroffenen, ein Interesse der Öffentlichkeit daran, zu erfahren, wer und was hinter dieser Tat steckt.”
Der stellvertretende profil-Chefredakteur Robert Treichler, wehrt sich gegen Kritik, dass Reporter des Nachrichtenmagazins die Familie des Täters besucht hätten: „Wir sind nicht mehr allein da. Ein beklemmendes Handy-Video, das während der Tat in der Schule gefilmt wurde – und das profil niemals zeigen würde – bekam auf einem einzigen TikTok-Account fast 300.000 Likes.”
„Schaden für Journalismus”
Den Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten reicht das nicht. Die Graz-Berichterstattung sei Symptom einer größeren Problematik und stehe stellvertretend für die Entwicklung der vergangenen Jahre. „Ein auf Geschwindigkeit, Reichweite und Klicks ausgelegtes Mediensystem” würde nicht nur dem Journalismus schaden. „Die damit einhergehende Gier nach Aufmerksamkeit bringe auch Angehörige in Bedrängnis und würde Opferschutzverbänden und Einsatzkräften ihre Arbeitsbedingungen erschweren.”
Tatsächlich sind die Rahmenbedingungen und Empfehlungen für journalistisches Handeln in solchen Fällen längst bekannt und geregelt, erklärt Nikolaus Koller, Geschäftsführer der Österreichischen Medienakademie, die heuer im Herbst auch zum vierten Mal einen Zertifikatslehrgang Gesundheitsjournalismus anbietet. Das Recht auf das eigene Bild müsse allen Medienleuten klar sein, ebenso wie der Werther- und der Papageno-Effekt.
Der Werther-Effekt ist nach Goethes „Leiden des jungen Werther” benannt, der mit dem Suizid der Hauptfigur endet und eine Welle an Nachahmungstaten auslöste. Die mediale Regelung, möglichst nicht über Suizide zu berichten, fußt darauf.
Der zweite Begriff wurde nach der Figur Papageno aus der Oper „Die Zauberflöte” von Mozart benannt. In der Oper hadert Papageno mit Selbstmordgedanken, überlebt aber durch positive Unterstützung von drei Knaben. In einer aktuellen Studie der Universität Wien zeigte sich auch, dass Beiträge von Influencern über Hoffnung und Krisenbewältigung insbesondere bei vulnerablen Personen ebenfalls eine präventive Wirkung haben.
Für Koller ist klar: „Etablierte Medien sollten hier nicht Follower von Sozialen Medien sein, sondern Richtung vorgeben.” Die Richtung sei auch international vor allem nach dem US-Schulmassaker an der Columbine Highschool im Jahr 1999 bekannt, sagt er. In den USA, wo die Zahl der School Shootings am höchsten ist, wurden viele Studien erstellt, die belegen, dass die Darstellung dieser Verbrechen in den Medien Nachahmungstäter motivieren kann.
US-Studien zeigen Folgen
Eine Studie, veröffentlicht im „American Journal of Public Health”, nennt Elemente, die einem Täter zu Prominenz und – in der Risikogruppe – zu höherem sozialen Status verhelfen können: Fotos, insbesondere solche, auf denen er mit Waffen zu sehen ist; die Wiedergabe eines von ihm verfassten Manifests; die genaue Darstellung des Tathergangs; die wiederholte Erwähnung der Opferzahl; vertiefte Erörterungen möglicher Tatmotive; genaue Schilderungen seines Lebenslaufes … Insgesamt solle die Quantität der Berichterstattung gering gehalten werden, so die Studie.
Wie lange solche Berichte nachwirken können und Täter inspirieren können, zeigt der Fall in Graz: Der dortige Amokläufer bezog sich angeblich auf das Massaker in der Columbine Highschool. Er werde in den kommenden Wochen Fachleute zu einem Austausch an einen Tisch bringen, um die Berichterstattung zu analysieren und weitere Schritte daraus abzuleiten, erklärt Medienminister Babler.
