Wenn plötzlich wieder der Mensch gefragt ist
© Dekra
Die Untersuchung zeigte: Der Forschungsbedarf zur Übernahme des Menschen aus dem automatisierten Fahren ist weiterhin hoch.
MOBILITY BUSINESS Redaktion 04.10.2024

Wenn plötzlich wieder der Mensch gefragt ist

Dekra und der Lehrstuhl für Ingenieurpsychologie der TU Dresden haben im Rahmen eines Kooperationsprojekts die Auswirkungen von Übernahmeaufforderungen beim hochautomatisierten Fahren bei unzutreffenden Informationen im Display untersucht.

WIEN. Auf den Straßen dieser Welt sind bereits Fahrzeugmodelle verschiedener Hersteller unterwegs, die im sogenannten hochautomatisierten Level-3-Modus fahren können. Dabei müssen Fahrerin oder Fahrer in bestimmten Fahrsituationen nicht mehr permanent das Fahrzeug überwachen. Vielmehr werden sie bei Bedarf innerhalb einer Vorwarnzeit vom System aufgefordert, das Lenkrad zu übernehmen. „Für die Akzeptanz und das Vertrauen in die Automation ist die zuverlässige Funktionalität der Technik eine entscheidende Voraussetzung“, sagt der Dekra Verkehrspsychologe Thomas Wagner unter Verweis auf den Dekra Verkehrssicherheitsreport 2024 „Verkehrsräume für Menschen“.

Die Probandenstudie untersucht die Auswirkungen von nicht bestimmungsgemäßen Übernahmeaufforderungen etwa auf das Verlaufsmuster von Herzschlägen und die Blickbewegungen der Person am Steuer. Erhoben wurde darüber hinaus auch das subjektiv erlebte Ausmaß des Vertrauens in die Automation. Zu diesem Zweck konnten Dekra und der Lehrstuhl für Ingenieurpsychologie der TU Dresden aus Teilnehmern einer vorausgehenden Online-Befragung unter anderem zu soziodemografischen Faktoren insgesamt 49 Personen für eine 40-minütige Testfahrt auf dem Dekra Lausitzring gewinnen.

Die 19 weiblichen und 30 männlichen Personen waren im Alter von 18 bis 56 Jahren, besaßen ihre Fahrerlaubnis im Schnitt seit neun Jahren und hatten vorab noch keine Erfahrungen mit hochautomatisierten Fahrzeugen gemacht. Die Teilnehmer blieben im Glauben, dass das bereits werkseitig mit einer Vielzahl von Umfeldsensoren ausgestattete und nachträglich um weitere Sensoren ergänzte Testfahrzeug eigenständig fuhr, die Fahrzeugsteuerung und Einleitung kritischer Übernahmeszenarien erfolgte jedoch manuell durch einen ausgebildeten Dekra Sicherheitsfahrer auf dem Beifahrersitz über einen Joystick. Die Ausstattung des Versuchsfahrzeugs mit einer halbhohen Trennwand zwischen den Vordersitzen verhinderte, dass die Versuchsperson diese Steuerung bemerkte.

Weniger Fahrkomfort durch Abwendung von Nebenaufgabe Während der Testfahrten erlebten die Probanden nach mehreren durchfahrenen Runden ohne besondere Vorkommnisse entweder einen „falschen Alarm“ ohne erkennbaren Anlass oder eine im Cockpit-Display durch die Warnung „Sensorstörung“ angezeigte nachvollziehbare Übernahmeaufforderung. Nach einigen weiteren Minuten störungsfreier Fahrt wurde ein „stiller Fehler“ simuliert – das Fahrzeug driftete langsam in die Gegenfahrbahn ohne vorherige Systemwarnung durch das Cockpit-Display. Während der Fahrt beschäftigten sich die Probanden – wie es in einem hochautomatisierten Fahrzeug im Level-3-Modus erlaubt ist – mit einer selbstgewählten Nebentätigkeit wie zum Beispiel dem Bearbeiten von E-Mails oder dem Lesen eines Buches.

Die Analyse der Blickbewegungsdaten mit Hilfe einer Eye-Tracking-Brille ergab keine großen Unterschiede zwischen den Auswirkungen einer unbegründeten und einer fahrerseitig nachvollziehbaren Übernahmeaufforderung. „Für beide Bedingungen nahmen die Mittelwerte des prozentualen Anteils der Blickdauer, die in die Verkehrsbeobachtung investiert wurde, im Vergleich zu einer fehlerfreien Fahrt des Fahrzeugs im automatisierten Fahrmodus um circa zehn Prozent zu“, erläutert Thomas Wagner.

Der „falsche Alarm“ löste eine verstärkte Überwachung des Fahrgeschehens aus – verbunden mit der Abwendung von der Nebenaufgabe. Dies ließ sich an einem höheren prozentualen Anteil der Blickdauer auf die für die Fahrzeugsteuerung relevanten Bereiche im Inneren des Fahrzeugs sowie auf die Verkehrsumgebung ablesen. Genauer gesagt an einem Anstieg von 35 auf rund 44 Prozent an der Gesamtzeit des jeweils analysierten zehnminütigen Zeitabschnitts. Der „stille Fehler“ führte zu einer weiteren Zunahme der Überwachung der Fahraufgabe auf 54 Prozent. „Das Erleben einer Übernahmeaufforderung reduziert also den Fahrkomfort, denn die Hinwendung zu einer Nebenbeschäftigung nimmt ab und die Fahrerin oder der Fahrer widmen sich der traditionellen Überwachung des Verkehrsraums vor dem Fahrzeug“, so der Dekra Verkehrspsychologe.

Unterschiedliche Übernahmeleistung
Weniger eindeutige Ergebnisse ließen sich aus den selbst berichteten Veränderungen des Vertrauens in die Automation gewinnen. Eine stärkere Abnahme der Vertrauenswerte in der Gruppe mit erlebter unbegründeter Übernahmeaufforderung im Vergleich zur Gruppe mit erlebter nachvollziehbarer Warnung konnte nicht nachgewiesen werden. Für die Gesamtstichprobe war jedoch unter anderem eine Abnahme des Vertrauens etwa in die Zuverlässigkeit des Systems zu beobachten. Die Stetigkeit der Schlagfrequenz des Herzens bei den Probanden unterschied sich zwischen den beiden Übernahmebedingungen nur marginal. Die zweite sicherheitskritische Situation, also das unbemerkte Abdriften des Fahrzeugs auf die Gegenfahrbahn, hatte keine großen Auswirkungen auf die Herzratenvariabilität. Das lag auch daran, dass diese gefahrenträchtige Änderung der Fahrzeugsteuerung aufgrund der nicht fahrbezogenen Nebentätigkeit meist sehr spät oder gar nicht erkannt wurde. Nach dem „Aus-dem-Auge-aus-dem-Sinn“-Prinzip wurde das allmähliche Verlassen der Fahrspur von den meisten Probanden nicht als gefährlich identifiziert oder als Stressor erlebt.

Entsprechend schlecht war die Übernahmeleistung bei Auftreten eines „stillen Fehlers“. Keine Versuchsperson konnte die Fahrzeugkontrolle rechtzeitig und sicher übernehmen. Gerade einmal sechs Probanden gelang es, das Fahrzeug zwar etwas zu spät, aber noch erfolgreich zu übernehmen. Dabei war das Fahrzeug schon zu Teilen auf der Gegenfahrbahn, das komplette Abkommen ließ sich gerade noch verhindern. 40 Probanden haben entweder zu spät übernommen oder gar nicht auf das Abdriften des Fahrzeugs auf die Gegenfahrbahn reagiert. Die Übernahmeleistung bei nachvollziehbarer Aufforderung fiel dagegen deutlich besser aus. Im Schnitt waren die Probanden nach 5,1 Sekunden übernahmebereit und hatten ihre Hände am Lenkrad. Die Latenzzeit von über fünf Sekunden bis zur Übernahme kann nach Ansicht des DekraVerkehrspsychologen als Indiz für den Aufbau eines Situationsbewusstseins gewertet werden. Wenn die Fahrerin oder der Fahrer nicht stets und ständig „in the loop“ seien, würden sie viel mehr Zeit für die mentale Verarbeitung einer Verkehrssituation benötigen. Zudem hätten vier Personen erst gar nicht versucht, die Fahrzeugsteuerung manuell zu übernehmen.

„Unterm Strich sollten diese Ergebnisse in jeder Hinsicht zu denken geben und deutlich machen, dass auf dem Weg zum hoch- und vollautomatisierten Fahren noch viele Hürden nicht nur in Sachen Fahrzeugtechnik zu überwinden sind“, sagt Thomas Wagner. Mag. Helmut Geil, Geschäftsführer Dekra Austria ergänzt „Das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KfV) hat in einem Code of Conduct 10 Grundsätze zur Entwicklung des Autonomen Fahrens definiert und setzt dabei auch einen Fokus auf das Thema automatisiertes Fahren und Sicherheit. So verweist das KfV unter anderem darauf, dass jene Phase in der Entwicklung, in der Lenker Fahraufgaben an das System übergeben, aber jederzeit nach Aufforderung durch das System auch wieder rückübernehmen müssen, übersprungen werden sollte. Studien hätten ergeben, dass die Rückübernahme bis zu 15 Sekunden dauern kann, womit diese Aufgaben nur in genehmigten Testumgebungen durchgeführt werden sollen.“ 

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