••• Von Alexandra Binder
Individualisierte Lebensmittel aus dem 3D-Drucker, Nanomaterialien und Nutrigenomik, personalisierte Nahrung, Bioökonomie oder neuartige Hygienisierungsmethoden für Lebensmitteln: Die Lebensmittelindustrie pumpt Millionen in die Entwicklung essbarer Innovationen. Man könnte auch sagen, die Branche ist ziemlich innovationsgetrieben.
Doch schmeckt das denjenigen, die diese Innovationen kaufen sollen, überhaupt? Das hat die renommierte deutsche Fraunhofer-Allianz Food Chain Management (FCM) im Auftrag der deutschen Lebensmittelwirtschaft e.V. eruiert. Und gibt jetzt erstmals Antworten auf die Frage, wie es Verbrauchern mit den technologischen Innovationen geht, die bewusst oder unbewusst den Weg auf ihren Esstisch finden. Einen Grund für das Interesse gibt es naturgemäß auch: Man will Unternehmen und Verbänden, aber auch wissenschaftlichen Einrichtungen, Daten liefern, auf deren Basis die ihre lebensmittelbezogenen Innovationen „verkaufen” und zu schnellerer und besserer Akzeptanz führen können. 1.006 Interviews wurden dafür im Juli 2015 in Deutschland geführt. Und die erlauben eine repräsentative Aussage, die auch österreichische Unternehmen interessieren dürfte.
Über Irrtümer und Vermischungen
Erkenntnis Nummer eins ist eine bahnbrechende: Nicht etwa Auto oder IT führen die Reihe der interessantesten Innovationsbereiche an. Nein, es sind Gesundheit und gesunde Ernährung; zwei von drei Befragten interessieren sich (stark oder sehr stark) für Innovationen in diesem Bereich. Erst auf Platz zwei folgt IT/Telekommunikation (53%), danach Lebensmittelherstellung und -verarbeitung und Innovationen im Handel; die liegen übrigens gleichauf mit Pharmazie und Auto/Autozubehör; am wenigsten interessant sind für Verbraucher offenbar Innovationen in der Landwirtschaft.
Erkenntnis Nummer zwei: Die Verbraucher sind technologischen Innovationen gegenüber in der Regel nicht negativ eingestellt, möchten deren Nutzen aber verstehen. 80% der Befragten halten sie für notwendig, ein Viertel hat dennoch Angst, aufgrund zu vieler Innovationen den Anschluss zu verpassen.
Allerdings werden Innovationen im Lebensmittelbereich oft gar nicht wahrgenommen. Eine offene Fragestellung danach hinterlässt Sprachlosigkeit. Knapp die Hälfte kann weder eine positive noch eine negative Innovation im Lebensmittelbereich nennen. Fraunhofer-Vertreter Mark Bücking sieht das „Als klaren Auftrag an die Wissenschaft und die Wirtschaft, Innovationen besser zu kommunizieren.” Wohl wahr. Denn auch denen, die meinen, Innovationen zu kennen, fällt dazu wenig ein: in positiver Hinsicht am häufigsten Biolandwirtschaft, in negativer Gentechnik. Zudem werden technologische Innovationen wie neue Maschinen oder Techniken zur Arbeitserleichterung, Gentechnik oder Onlinekauf wild mit allgemeinen Lebensmittelthemen wie Freihandelsabkommen, Massentierhaltung oder Preisentwicklung vermischt. Bücking erklärt sich das so: „Die Verbraucher verbinden mit dem Begriff ‚Innovation' alle guten und schlechten Neuigkeiten in Zusammenhang mit Technik und Lebensmittelproduktion. Die Biokiste und die Küchenmaschine gehören für sie ebenso zu den Innovation wie die Massentierhaltung.” Etwas anders stellt sich die Situation in der geschlossenen Fragestellung dar. In der wurde eine Reihe Innovationen über die ganze Lebensmittelkette hinweg abgefragt. Und siehe da: Es zeigten sich zum Teil hohe Bekanntheitsgrade. Wobei kennen nicht automatisch positiv wahrnehmen heißt.
Die Wichtigkeit und die Kommunikation
Im Detail ist lediglich ein Drittel Innovationen im Lebensmittelbereich gegenüber skeptisch eingestellt, ein Fünftel lehnt sie aus Angst vor gesundheitlichen Folgen ab, der Rest schätzt sie überwiegend als wichtig ein. Insbesondere dann, wenn konkrete künftige strategische Ziele von Innovationen ins Spiel kommen – etwa die Verbesserung von Welternährung, Umweltschutz und Tierhaltung –, geht die Zustimmung hoch. Weit oben in der Gunst liegen Strategien zur Ressourcenschonung (85%), umweltschonende Verpackungen, die Verbesserung der Tierhaltung und die Sicherung einer nachhaltigen Lebensmittelerzeugung.
Wie Lebensmittelinnovationen kommuniziert werden, stößt den Verbrauchern aber teils sauer auf: Drei Viertel (76%) vermissen Transparenz, ähnlich viele wünschen sich, dass der Nutzen im Vordergrund steht und wollen frühzeitig eingebunden werden. Einen Widerspruch zwischen Tradition und Innovation sehen die meisten allerdings nicht. Stephan Becker-Sonnenschein von der Lebensmittelwirtschaft e.V. geben diese Ergebnisse zu denken. Innovationen, sagt er, würden derzeit vorwiegend nur als technologische Innovationen verstanden, die die Wettbewerbsfähigkeit in der globalen Wirtschaft sichern, Arbeitsplätze erhalten und Umsätze beibehalten oder steigern. „Sie müssen aber einen Nutzen, z.B. persönlich oder gesellschaftlich haben, um von den Verbrauchern akzeptiert zu werden. Sie brauchen eine soziale Dimension. Das muss auch in der Kommunikation mitbedacht werden. Mit unserer aktuellen technisch geprägten Sichtweise springen wir zu kurz. Unternehmen müssen ,sozial' kommunizieren, nicht nur produktbezogen.”
Die mediale Verbreitung
Wie dürftig die Kommunikation ist, zeigt, dass ein Fünftel der Befragten angibt, in den letzten zwölf Monaten gar keine Lebensmittelinnovation wahrgenommen zu haben. Der Rest holt sich sein Wissen allem voran über einen Kanal: das Fernsehen. Mehr als die Hälfte (53%) erfährt im TV davon, gefolgt vom zweiten klassischen Medium, der Tageszeitung (31%), Online-Medien, Familie, Freunden und Bekannten. Nachholbedarf in Sachen Kommunikation hat die Wissenschaft: Nur 17% nehmen Infos über Lebensmittelinnovationen wahr, die aus dieser Ecke kommen. Schlusslichter sind der Hörfunk, unabhängige Testinstitutionen und auch die Bundesregierung. Noch mehr Informationen? Da würden Verbraucher nicht nein sagen. Am liebsten weiter in TV und Print, jeder Fünfte würde sich aber auch gern vor Ort Eindrücke verschaffen, durch Besuche von Betrieben, Forschungseinrichtungen oder Bauernhöfen. Womit sich der Kreis wieder beim Thema Einbindung schließt. Wie bereits erwähnt wünschen sich 73 Prozent, mehr in die technischen Innovationen eingebunden zu werden. Das korrespondiere, sagt Becker-Sonnenschein, mit dem Wunsch der Vor-Ort-Besuche. Die aktuelle Situation sieht er wenig erfreulich. „Kundeneinbindung ist die Achillesferse der deutschen Mentalität. Wir sollten uns stärker vernetzen, digitale Cluster bilden und sogenanntes Knowledge Sharing betreiben.”
Geschmack geht vor Zusammensetzung
Was die Einstellung zur Ernährung generell betrifft, geben sich die Deutschen offen: Qualität und Geschmack sind für die Verbraucher meistens wichtiger als die Zusammensetzung des Lebensmittels. Zwei Drittel sind der Meinung, sich überwiegend gesund und ausgewogen zu ernähren. Becker-Sonnenschein sieht aber auch hier noch Nachholbedarf. In Deutschland werde beim Thema Lebensmittel hauptsächlich über Preis und Sicherheit gesprochen. Wie die WHO-Diskussion über rotes und verarbeitetes Fleisch zeige, könne die Sicherheit aber erschüttert werden, die Preise seien labil, weil Marktbedingungen unterworfen, und dem Verbraucher gehe es sowieso um den Geschmack: „80 Prozent sagen: Ich esse, was mir schmeckt. Und fast 50 Prozent ist der Geschmack wichtiger als die Inhaltsstoffe. Wenn wir also die Wertschätzung für Lebensmittel erhöhen wollen, sollten wir über Genusskommunikation nachdenken”, so Becker-Sonnenschein. „Und ein Lebensgefühl vermitteln statt nur die Preise.”
Die Typisierung
Aus der Fülle an Daten ergeben sich erstmals auch fünf Gruppen, an die gezielt eine verstärkte Innovationskommunikation gerichtet werden kann: Der Interessiert-Skeptische (17%), der Interessiert-Befürwortende (24%), der Desinteressiert-Gleichgültige (25%), der Partizipierend-Kritische (13%) und der Technikaffin-Pragmatische (21%).
Der Interessiert-Skeptische hält Innovationen bei Lebensmitteln für notwendig und ist gespannt auf künftige, wenngleich er sie eher skeptisch sieht. Informiert fühlt er sich gut, hat aber Probleme mit technischen Geräten.
Beim Interessiert-Befürwortenden ist das Interesse an Innovationen hoch. Er hält sie für notwendig, steht ihnen positiv gegenüber und er ist technikaffin. Sein insgesamt hohes Involvement drückt sich auch in dem Wunsch nach noch mehr Informationen aus.
Kaum Interesse findet sich dagegen beim Desinteressiert-Gleichgültigen, dem Lebensmittelinnovationen auch nicht wichtig sind. Informationen, findet er, hat er nicht genug, will aber auch nicht mehr eingebunden werden und nimmt entsprechend wenig Informationen über Innovationen wahr.
Der Partizipierend-Kritische dagegen hat ein hohes Interesse an Innovationen bei Gesundheit und Lebensmittelherstellung. Er sieht die Notwendigkeit für Wirtschaft und Gesellschaft, steht ihnen aber skeptisch gegenüber. Innovationen im Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit befürwortet er, möchte den Nutzen verstehen und den Verbraucher stärker einbezogen sehen, um eine transparentere Kommunikation der Lebensmittelwirtschaft zu erreichen.
Der Technikaffin-Pragmatische schließlich hat Interesse an Innovationen allgemein, aber kaum für solche aus dem Lebensmittelbereich. Er lehnt sie zwar nicht kategorisch ab, ist aber skeptisch und geht pragmatisch damit um. Sicher ist er im Umgang mit technischen Geräten.
Und die Moral aus der Geschicht?
Weder in der Wissenschaft noch in der Wirtschaft wird der verbraucherrelevanten Innovationskommunikation bei Lebensmitteln aktuell eine ausreichende Bedeutung eingeräumt, stellen die Fraunhofer-Allianz FCM-Forscher in ihrem Fazit fest. Leicht wird die künftig aber auch nicht sein: Denn Verbraucher nehmen Innovationen im Lebensmittelbereich sehr unterschiedlich wahr und bewerten sie nicht einheitlich, wenngleich Interesse vorhanden ist. Und: Sie nehmen sie anders wahr als die Experten. Für den Verbraucher muss eine Innovation einen persönlichen oder sozialen Nutzen haben, das heißt sinnstiftend wirken. Was als Thema nicht im Alltag ist, bestimmt auch nicht das Denken. Die Neuartigkeit einer Innovation muss wahrnehmbar und nützlich sein. Nur wer Innovationen wahrnimmt, für den können sie auch Innovationen sein. Wer über Innovationen kommunizieren will, so die Studienautoren, sollte auf den Gesundheitsnutzen und die Nachhaltigkeit setzen und die Inhalte für die Zielgruppen entsprechend aufbereiten. Nur so ließen sich Lebensmittelinnovationen aus der Branche heraus verstärkt in die Gesellschaft zu transportieren.
Kostenfreier Download der Studie:
http://www.fcm.fraunhofer.de