Wenn der Ruf nach der Kassa für immer verhallt
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RETAIL Redaktion 19.05.2023

Wenn der Ruf nach der Kassa für immer verhallt

Weil beim „Energiekostenzuschuss 2” nichts weitergeht, sperrt nun ein Kaufmann nach dem anderen zu.

••• Von Paul Hafner

Am 21. Oktober 2022 traten die führenden Vertreter der selbstständigen Kaufleute im Rahmen einer recht kurzfristig einberufenen Pressekonferenz vor die heimischen Medien – und sendeten einen „verzweifelten Hilferuf” aus: Die explodierenden Energiekosten würden große Teile der österreichischen Nahversorgerschaft in die Bredouille bringen, Hunderten bis Tausenden Kaufleuten drohe das baldige Aus.

Der lautstarke Schulterschluss schien seinen Adressaten, die Bundesregierung, erreicht und wachgerüttelt zu haben: Der wenige Tage vor Weihnachten bekannt gegebene „Energiekostenzuschuss 2” sah eine Fortführung und Ausweitung der Unterstützungsleistungen des Vorgängermodells vor. Das sorgte für ein Durchatmen bei den Kaufleuten; insbesondere die Abschaffung des Kriteriums der Energieintensität bei kleineren (umsatzschwächeren) Unternehmen, die Erhöhung der Unterstützungsquoten von 30 auf 60% sowie die Anhebung der Förderobergrenzen schaffe „Planungssicherheit und eine Perspektive für das kommende Jahr”, zeigte sich Christian Prauchner, Bundesobmann des Lebensmittelhandels in der WKÖ und selbstständiger Spar-Kaufmann, in einer ersten Reaktion erleichtert – was nun Not tue, so Prauchner im Dezember, sei eine „rasche und unbürokratische Umsetzung, damit die Fördermittel zügig ausgezahlt werden können und die Liquidität der Betriebe gestärkt wird”.
Knapp fünf Monate sind seither ins Land gezogen – „und vom ‚Energiekostenzuschuss 2' gibt es bis heute, Stand Mai, noch nicht einmal einen Entwurf für eine Verordnung”, hält Wolfgang Benischko, Obmann-Stv. des Bundesgremiums Lebensmittelhandel bei der WKÖ, gegenüber medianet ungläubig fest. „Wir haben dazumals schon gewarnt: Wenn nicht im Halbjahr einmal eine Zahlung erfolgen sollte, dann werden das viele von uns nicht überleben können. Ein ganzes Jahr vorfinanzieren, das geht sich nicht aus – und es passiert, wovor wir im Oktober gewarnt haben: Selbstständige Kaufleute sperren nach der Reihe zu, und auch Ketten haben begonnen, Filialen zu schließen.”

Nur die Spitze des Eisbergs

Wirkten Vorwürfe à la „Säbelrasseln” bereits im Herbst verfehlt, wäre – im Bilde bleibend – mittlerweile angemessenerweise eher von einer Messerstecherei zu reden: Einen „Reality Check”, eine Veranschaulichung des Nahversorgersterbens lieferte kürzlich die ORF-Reportagereihe „Am Schauplatz”, die das endgültige Schließen einiger Nahversorger – samt der damit verbundenen Implikationen für die Bevölkerung und das gemeinschaftliche Ortsleben – in den Wintermonaten eindrucksvoll dokumentierte.

Was sich bis jetzt ereignet hat, kann getrost als die Spitze des Eisberges bezeichnet werden: „Die extrem hohen Energiekos-ten beginnen bei den meisten – wie auch mir selbst – erst jetzt, mit den neuen Energieverträgen und angepassten Preisen, zu greifen. In den nächsten zwei, drei Monaten wird man das wahre Ausmaß bemerken”, erklärt der Kaufmann.
Benischko selbst, der zwei Nah&Frisch-Standorte in Ottensheim und St. Agatha betreibt, kann indes wie ursprünglich geplant Ende 2023 in Pension gehen – dass er nicht frühzeitig schließen muss, verdanke sich einem Entgegenkommen der Bank, die den Kontorahmen erhöht habe. „Es ist aber schon so, dass am Ende des Monats ein Minus rausschaut – auf Dauer würde das natürlich nicht funktionieren.” Sein Geschäft in Ottensheim sperrt Benischko seit 1. April am Samstagnachmittag gar nicht mehr auf: „Weil ich kein Personal mehr finde und mich die Energiekosten sonst noch früher umbringen würden. Die Lage ist also mehr oder minder aussichtslos.”

Eine Frage der Zeit

Von einer „wirklich großen Last, die wir mittlerweile auf der Kostenseite tragen”, berichtet auch Kaufmann Prauchner, wie Benischko unter den Sprechern der besagten Pressekonferenz im Herbst. „Wir haben damals darauf verwiesen, dass die Erhöhung der Energiepreise nicht sofort schlagend würde, weil wir ja alle Verträge haben. An diesem Punkt sind wir aber allmählich angelangt: Viele Kollegen haben kürzlich neue Verträge abschließen müssen – und darunter sind auch diejenigen, denen es jetzt an den Kragen geht.”

Daraus folgt die perfide Konsequenz: Welcher Kaufmann oder welche Kauffrau überlebt, hängt mitunter – neben der Höhe der Liquiditätsdecke (Prauchner: „Sie werden keine Bank in Österreich finden, die Ihnen Ihre Stromrechnung auf Kredit finanziert!”) – davon ab, wann die Preisbindung ihres Energievertrags ausläuft (bzw. der Vertrag vonseiten des Strom­anbieters gekündigt werden kann) und ob dies geschieht, nachdem oder bevor die gesunkenen Großhandelspreise beim Endkunden ankommen. Prauchner, dessen aktueller Stromtarif um 36% über dem „Vorkrisenniveau” liegt, hat nach eigenem Bekunden das „Glück”, sich erst im kommenden Herbst um einen neuen Vertrag umzusehen – bleibt es bei den aktuell gültigen Konditionen, würde er künftig das Dreifache von dem zahlen, was er gegenwärtig entrichtet.
Was für die Bevölkerung gilt, gilt genauso für die Kaufleute: „Die Energie wird nicht bei allen schlagartig teurer, sondern das ist jetzt ein schleichender Prozess – und deshalb fällt das auch medial nicht so auf, dass die ersten Kaufleute zugesperrt und einige andere ihre Betriebsschließung per Jahreswechsel angekündigt haben.” Weil das „nicht so einen Kracher macht, wie wenn eine Handelskette plötzlich schließt”, werde man wohl in zwei oder drei Jahren mit Blick auf die Statistiken staunen und feststellen: „Bumm – so viele waren das?”

Ein Drittel in Gefahr

Um eine vorsichtige Prognose gefragt, geht Benischko davon aus, dass sich die Zahl der selbstständigen Kaufleute in diesem Zeitraum um ein Drittel reduzieren könnte – eine Einschätzung, die auch Prauchner für zumindest nicht unrealistisch hält („Als erstes trifft es natürlich einmal die Nahversorger in dünner besiedelten Regionen”). Gerade vor diesem Hintergrund wolle man sich „auf keinen Fall als Körberlgeldverdiener oder Inflationstreiber abstempeln lassen”, stört sich Prauchner an den jüngsten Schuldzuweisungen aus der Politik: „Gerade in den letzten Wochen hat man sich sehr stark auf den Lebensmittelhandel eingeschossen. Dabei muss man dorthin schauen, wo die Wurzeln der Erhöhungen liegen, und einer der Haupttreiber dafür ist die Energie – die Teuerungen im Lebensmittelbereich sind allein die verzögerte Folge der vorangegangenen Teuerungen, die uns zunehmend unter Druck bringen. Ich betone noch einmal: Geben wir die Preise nicht weiter, überleben wir nicht.”

Kein Körberlgeld für den LEH

„Man kennt ja die Bilanzen des Lebensmittelhandels und kann ablesen, was unterm Strich geblieben ist – und kann sich ausrechnen, dass bei gewissen Preissteigerungen, die auf uns zukommen, dann eben nichts mehr bleibt und bleiben kann”, sieht auch Benischko keine Grundlage für die „Körberlgeld”-Vorwürfe.

Wenn aber beim LEH – der 2022 bekanntermaßen real ein Umsatzminus eingefahren hat – mit seinen branchentypisch niedrigen Gewinnmargen von unter zwei Prozent nichts zu holen ist, und sich auch die kräftigen Umsatzzuwächse der heimischen Industrie von der Kostenexplosion ins Realminus relativieren: Wie ist den hohen Lebensmittelpreisen dann beizukommen?

Stellschraube Strompreis

„In Bereichen, wo das jetzt möglich ist, muss versucht werden, Preissenkungen zu erzielen”, kommt Prauchner abermals auf die Energiepreise zu sprechen. „Wenn dadurch die Produktionskosten sinken, werden automatisch – so hoffe ich – unsere Einstandspreise sinken, und wenn die Einkaufspreise sinken, dann können wir das auch an die Kunden weitergeben – und so unseren Teil dazu beitragen, dass, mit einer gewissen Verzögerung, auch die Inflation wieder sinkt. Das ist natürlich ein Kreislauf”, sieht Prauchner Licht am Ende des Tunnels. Ans Zusperren denkt er nicht mehr – wenngleich ihm das Szenario einer Stromvertragskündigung im Oktober samt neuem Vertrag zu den damaligen Konditionen Schulden in sechsstelliger Höhe beschert hätte und eine Fortführung seiner Geschäfte in diesem Fall schlichtweg „unmöglich” geworden wäre.

Blick nach vorn

Gefallen an der Rolle des Bittstellers findet Prauchner freilich nicht: „Wir wollen uns gar nicht hinstellen und sagen müssen: ‚Bitte unterstützt uns, sonst geht die Wirtschaft vor die Hunde.' Wir wollen Bedingungen haben, mit denen wir wettbewerbungsfähig bleiben und wirtschaftlich arbeiten können”, betont Prauchner noch einmal ausdrücklich. Entschlossener Nach- und Schlusssatz: „Mir ist alles recht, was sich die Politik einfallen lässt, damit die Energiepreise wirklich sinken – und die Kunden genauso wie die Unternehmer und die Wirtschaft wieder in den Genuss vertretbarer Energiepreise kommen.”

Kurs auf Konsolidierung

Auch Benischko hofft, „dass sich die Energiekosten marktmäßig reduzieren werden – oder andernfalls die Regierung einsieht, dass sie noch einmal in die Taschen und uns unter die Arme greifen müssen”. Schwarz sehen für die langfristige Zukunft der Nahversorgung tut er nicht: „Die Leute denken um, sie wollen ihren Nahversorger erhalten, sie wollen nicht mehr so viel Zeit vertun mit dem Einkaufen – ich bin eigentlich zuversichtlich, dass es über kurz oder lang wieder bergauf geht.”

Kritische Ausnahme: Die Nahversorger in den kleinen Gemeinden. „Wenn da ein Nahversorger aufhören muss … da kommt dann niemand mehr nach, da ist’s dann vorbei, und da lässt sich auch keine Handelskette mehr nieder.”

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