WIEN. Es ist nicht das erste Mal, dass die Werbezensur von Facebook komplett daneben liegt. Der WienTourismus machte sich die absurden Werberichtlinien des U.S.-Digitalgiganten schon zunutze und kokettierte in seiner Kampagne mit Sujets von Gustav Klimt, die den selbsternannten Sittenwächtern im Silicon Valley wohl zu frivol erschienen. Etwas weniger erfreut zeigte sich kürzlich das Bank Austria Kunstforum Wien. Sujets zur Bewerbung der aktuellen Ausstellung „Pierre Bonnard. Die Farbe der Erinnerung“ fielen ebenfalls der Zensur zum Opfer und erschwerten dem Ausstellungshaus die Bewerbung einer international viel beachteten Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Tate Gallery in London.
Widersprüchlichkeit bei Facebook
Jetzt trifft es den Checkpoint Zürich, der zum Welt-AIDS-Tag ein Video mit zwei sich küssenden Männern bewerben wollte. Facebook lehnte zweimal ab. „Das Video beinhalte sexuelle oder anzügliche Bilder, Nacktheit und Menschen in anzüglichen Posen oder bei sexuell provokanten Handlungen“, so die Argumentation des Medienunternehmens, das bei Fake News deutlich weniger Zurückhaltung kennt. Nicht nur Facebook selbst, sondern auch Instagram macht es dem Gesundheitszentrum für queere Männer sehr schwierig, Werbung zu schalten. Während Facebook sich gerne LGBT-friendly zeigt und im Juni die Regenbogenfahne hisst, wird es Institutionen erschwert, Präventionsarbeit zu leisten und Awareness-Kampagnen zu schalten.
Zensur als Mobbing-Schutz gettarnt
Kritisch sieht der Online-Vermarkterkreis auch die diskriminierenden Moderationsregeln im chinesischen Netzwerk TikTok: Unter anderem landeten homosexuelle oder dicke Menschen auf einer Liste von „besonderen Nutzern“. Ihre Videos wurden als Mobbing-Risiko betrachtet und in der Reichweite beschränkt. Als Beispiele für betroffene User nennt TikTok in seinen Richtlinien „entstelltes Gesicht“, „Autismus“ oder „Downsyndrom“. Die Entscheidung über die Klassifizierung der User obliegt Moderatoren, die dafür rund 30 Sekunden Zeit haben. Obwohl diese Richtlinien mittlerweile revidiert wurden, muss sich das Netzwerk dem Vorwurf der politischen Zensur stellen.
„Digitalwerbung ist ein mächtiger Hebel für Awareness-Kampagnen, gesellschaftliche und kulturelle Anliegen. Am aktuellen Beispiel zeigt sich wieder deutlich, welche Doppelmoral hinter Facebook steckt und welch bedrohliche Auswirkungen die Zensur durch die U.S.-Digitalgiganten haben kann. Österreichische Publisher werden von Menschen gesteuert, die den Markt kennen und das nötige Fingerspitzengefühl haben. Es kann nicht sein, dass gesellschaftsrelevante Themen oder kulturelle Inhalte zensiert werden“, moniert Eugen Schmidt (AboutMedia), Leiter des Online-Vermarkterkreises im iab austria.
Im Zusammenhang mit der aktuellen Werbezensur aus der Schweiz macht der Online-Vermarkterkreis auch auf Probleme mit der Umfeldqualität aufmerksam. Während Werbung für wichtige Themen blockiert wird, öffnen die U.S.-Digitalgiganten den Machern von Fake News Tür und Tor. Letztlich müsse für Werbetreibende aber auch NGOs und Kulturinitiativen die Vertrauenswürdigkeit der Inhalte entscheidend sein. Facebook und Co. nützen ihre marktbeherrschende Stellung aus, investieren jedoch nicht ausreichend in die Überprüfung der Inhalte, sondern nehmen Werbezensur als Feigenblatt, um sich als gesetzeskonform darzustellen. Vor diesem Hintergrund kann keine Rede von rein technischen Anbietern sein, wenn Eingriffe in die Inhalte erfolgen. Auch daran zeigt sich die Doppelmoral, mit der Facebook die EU-Politik narrt.
„Weder Klimt noch Bonnard und schon gar nicht eine AIDS-Aufklärungskampagne würden von österreichischen Qualitätspublishern a priori abgelehnt werden. Die Zensur ist ein guter Anlass, um die Kampagnenplanung für das nächste Jahr noch einmal auf Herz und Nieren zu prüfen. Was kommt als nächstes? Wird das Christkind bald verboten und nur mehr Werbung mit dem Weihnachtsmann erlaubt, der viel mehr dem amerikanischen Ideal des Santa Claus entspricht?“, sagt Schmidt. (red)
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