Kreativwirtschaft stellt sich am Arbeitsmarkt neu auf
© leisure communications/Mila Zytka
Helena Luczynski, Isabel Gabor und Lisa Eppel.
MARKETING & MEDIA Redaktion 14.04.2022

Kreativwirtschaft stellt sich am Arbeitsmarkt neu auf

Gemeinsam mit der Fachgruppe Werbung und Marktkommunikation startet der Creativ Club Austria die Initiative „Fair Work“, um das Arbeiten in der Branche nachhaltig auf die Zukunft auszurichten.

WIEN. Die Auftragsbücher sind voll, die Bewerbungen halten sich in Grenzen: Mitarbeiter haben vor allem in den letzten beiden Jahren im Homeoffice gelernt, wie es ist, als Ich-AG zu arbeiten. Um hier als attraktive Arbeitgeberin zu bestehen, muss sich die Kreativwirtschaft, wie viele andere Branchen, neu erfinden. Lange Arbeitszeiten, Sexismus und familienfeindliche Karrierestrukturen machen es nicht nur Eltern schwer, in der Branche zu bleiben, sondern halten auch junge Talente vom Einstieg in die Werbewelt ab oder bewegen sie dazu, in andere kreative Berufe abzuwandern. Pandemiebedingt haben sich Arbeitsweisen und
-bedingungen in Agenturen deutlich geändert. Flexibilität und kollaboratives Teamwork mit Homeoffice sind vielerorts Standard. Die berüchtigte gläserne Decke für weibliche Führungskräfte und der Karriereknick durch Teilzeitarbeit sind allerdings nach wie vor präsent.

Herausforderungen gibt es aber nicht nur für Arbeitnehmer: Die neue Arbeitswelt stellt auch die Arbeitgeberseite vor Herausforderungen im Employer Branding. Gemeinsam mit der Fachgruppe Werbung und Marktkommunikation in der Wirtschaftskammer Wien startet der Creativ Club Austria darum die Initiative „Fair Work“, die sich in mehreren Workshops und Veranstaltungen in den nächsten Monaten neuen Strategien und Maßnahmen zu fairen Arbeitsbedingungen und Gehältern, Geschlechtergleichheit und neuen Arbeitsmodellen widmet. Im Dialog mit der Kreativwirtschaft sollen Leitplanken errichtet werden, innerhalb derer sich Agenturen als zukunftsreiche Arbeitgeber positionieren können. Das Ziel: Eine gemeinsame Haltung, die in der „Fair Work“-Charta manifestiert wird, zu der sich Agenturen künftig bekennen.

„Mit ‚Fair Work‘ möchten wir die Kreativwirtschaft unterstützen und gemeinsam tragfähige Konzepte erarbeiten. Employer Branding entscheidet über die Zukunftsfähigkeit von Agenturen. ‚Fair Work‘ wird der Leitfaden für eine Neupositionierung von innen heraus“, beschreiben die Mitglieder der Creativ Club Austria-Arbeitsgruppe, Melanie Pfaffstaller (Mel P Filmproductions), Rita-Maria Spielvogel (BBDO Wien) und Doris Christina Steiner (Jung von Matt Donau), die Intention des Projektes.

„Im 50. Jahr seines Bestehens möchte der Creativ Club Austria die Coolness und den Spirit der Agenturen zurück auf den Arbeitsmarkt bringen“, bekräftigt Creativ Club Austria-Geschäftsführer Reinhard Schwarzinger.

„Wir stehen im direkten Wettbewerb mit anderen Branchen. Es gibt keine allgemeingültige Lösung, aber wir können eine gemeinsame Haltung definieren und an Schrauben drehen, damit sich das System langfristig ändert – schließlich sind wir das System“, begrüßt Helena Luczynski im Namen der Fachgruppe Werbung und Marktkommunikation in der Wirtschaftskammer Wien zum Auftakt der gemeinsamen Initiative „Fair Work“.

Ad Girls Club: Die deutschen Branchenkolleginnen gehen mit Vorbild voran
Mit dem Ad Girls Club hat in Deutschland 2021 eine wichtige Initiative auf sich aufmerksam gemacht, mit der die Attraktivität der Kommunikationswirtschaft für Frauen gesteigert wird. Zug um Zug haben sich die führenden Agenturen der Bundesrepublik dem Manifest verpflichtet, um die Zukunft des Arbeitsmarkts frauenfreundlicher und gerechter zu gestalten. Angesichts Zehntausender offener Stellen und voller Auftragsbücher ist der Change-Prozess in der Kreativindustrie dringend nötig, um sich weiterhin als zukunftsorientierter und chancenreicher Arbeitgeber zu positionieren.

Isabel Gabor und Lisa Eppel präsentieren das feministische Kollektiv, das sich einer Lösung der größten Pain Points in der Branche verschrieben hat. Auslöser für die Initiative war ein Sexismus-Vorfall in einer namhaften deutschen Agentur, der zum Austausch Betroffener in einer Telegram-Gruppe führte. Daraus zeigte sich schnell, dass es sich um keine Anhäufung von Einzelfällen, sondern ein strukturelles Problem in der Branche handelt. Binnen kurzer Zeit äußerten sich über 600 Betroffene zu persönlichen Erlebnissen.

Agenturen und ihre Kampagnen formen gesellschaftliche Bilder
Nur 18% der Geschäftsführungspositionen in Deutschland sind weiblich besetzt, während die Frauenquote in der Agenturlandschaft bei 60% liegt. Der Gender-Pay-Gap liegt in der Bundesrepublik bei 6,5 Prozent.

„Die Kreativwirtschaft hat mit ihren Narrativen und Kampagnen einen enormen Einfluss auf die Gesellschaft und kann Veränderungen auslösen“, sind Gabor und Eppel überzeugt.

Das Manifest des Ad Girls Clubs versteht sich als klare Kante gegen Sexismus, mit der die Werbelandschaft von innen heraus verändert werden soll. Sie soll durch eine Frauenquote von 50% in der Geschäftsführungsebene, Lohngleichheit, genderneutrale Sprache, die Vereinbarkeit von Kind und Karriere sowie Vertrauens-Ansprechpartnerinnen erreicht werden. Die Teilnahme der Agenturen basiert ausschließlich auf freiwilliger Basis und nach einem externen Audit durch den Ad Girls Club.

„Die hohe Nachfrage nach qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erhöht den Druck auf die Agenturen, Veränderungen anzustoßen. Wer nicht Haltung beweist und sich zu fairem Handeln bekennt, wird noch schwieriger geeignete Bewerberinnen und Bewerber finden“, sind die
Ad-Girls-Club-Gründerinnen überzeugt.

Positive Ausblicke und die Suche nach der eigenen Identität
Positive Auswirkungen auf die Wahl fair agierender Agenturen erwartet sich Annabel Loebell (Loebell Nordberg) im Talk mit den Wirtschaftscoaches Vera Steinhäuser und Hannes Sonnberger durch die ESG-Standards. Sie veranlassen Auftraggeber zur sorgsamen Auswahl ihrer Dienstleister und Lieferanten. So wie heute die CO2-Neutralität als Bewertungskriterium entscheidet, sollen auch Punkte wie Geschlechtergleichstellung eine wesentliche Rolle für die Auftragsvergabe spielen. Rita-Maria Spielvogel (BBDO Wien) fordert, die Relevanz der Kreativität für den Erfolg in den Vordergrund zu stellen und jungen Menschen den Sinn in ihrer Arbeit besser zu verdeutlichen.

Zwar habe sich in den vergangenen zehn Jahren die Diversität in Österreich spürbar verbessert, es bleibe aber sehr viel Luft nach oben, meint Kaitlyn Chang (Accenture Interactive). Diversität sei vor allem in den Führungsebenen kaum wahrnehmbar. Gesellschaftliche Veränderung zu gestalten, mache die Arbeit in Agenturen wieder relevant und attraktiv für die junge Generation, merkt Shirin James (Papabogner) an. Nicht nur Awards und Klienten zählen im Employer Branding, sondern das Umfeld und die Chemie, durch die sich Talente entfalten können. Arbeitszeiten müssen sich flexibel an die Bedürfnisse der Mitarbeiter anpassen, wobei Teilzeitmöglichkeiten allen angeboten werden sollten – aus welchen Gründen auch immer. Accenture Interactive ermöglicht seinen Mitarbeitern bereits, ihre vertragliche Arbeitszeit selbstständig über ein Online-Tool zu adaptieren. HR-Management sei in den Geschäftsführungsetagen angekommen, weil das Thema an Bedeutung gewonnen habe, berichtet Thomas Tatzl (DDB Wien) aus dem Agenturalltag. Flexible Arbeitszeiten werden zum Standard und verlangen nach neuen Managementstrategien. Obwohl es auch in der Werbebranche einen akuten Fachkräftemangel gibt, hält Recruiter Patrik Sünwoldt die Kreativwirtschaft nach wie vor für attraktiv. Neben Coolness braucht es individuelle Weiterbildungsmöglichkeiten, um Arbeitnehmern eine Perspektive zu geben. Er rät Agenturen, ins Risiko zu gehen und langfristig in Menschen zu investieren. Die Sinnsuche der jungen Generation stellt auch Agenturen vor eine Identitätskrise, in der sie Antworten auf ihr eigenes Tun finden und geben müssen.

Die „Fair Work“-Charta ist dazu ein starker Schritt in die richtige Richtung. Bis September 2022 wird sie mit breiter Teilnahme der heimischen Agenturvertreter gemeinsam erarbeitet und ab dann verbindlich und umfassend gelebt werden. (red)

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