Verschlafene Revolution?
© Dialogschmiede/Katharina Axmann Photography
MARKETING & MEDIA Redaktion 29.06.2018

Verschlafene Revolution?

Künstliche Intelligenz wird auch im Marketing immer mehr zum Wirtschaftsfaktor. Wie kann man den Trend nutzen, und weshalb setzt bisher niemand darauf?

WIEN. Fachleute sind sich einig: Künstliche Intelligenz wird in den nächsten Jahren in allen Wirtschaftszweigen Fuß fassen und sie nachhaltig verändern – auch in der Verlagsbranche.

Trotz dieser flächendeckenden Ankündigungen hat bis jetzt kaum ein Verlag im deutschen Sprachraum Künstliche Intelligenz im Einsatz, geschweige denn hiesige Fachverlage, die aufgrund geringerer Kapazitäten weder Zeit noch Ressourcen haben, sich mit dem Thema Automatisation im Detail auseinandersetzen.

Keine Zeit für Innovation

Michael Vaclav, Gründer der Wiener Growth Marketing-Agentur Brandreach, versucht bereits seit längerer Zeit, die maschinelle Abwicklung von Marketingprozessen in österreichischen Unternehmen voranzutreiben, doch gerade in der Verlagsbranche ist der Veränderungswille – trotz der offensichtlichen Vorteile – seiner Erfahrung nach endend wollend: „Es gibt da eine Analogie: Drei Menschen ziehen einen Wagen mit dreieckigen Rädern, dahinter kommt jemand mit runden und sagt: Wir können tauschen. Sie antworten, ohne aufzublicken: Keine Zeit.”

Der Marketing-Spezialist mit Backend-Erfahrung bei der österreichischen Tageszeitung Der Standard lässt Zeit für eine betroffene Pause, bevor er weiter ausführt: „Im Prinzip kann man jede Regel-Tätigkeit, die einer bestimmten Abfolge und Logik folgt, automatisieren. Das bedeutet eine Ersparnis in der Arbeitszeit sowie eine Verlagerung der Tätigkeit von administrativen Tätigkeiten zu mehr strategischen Überlegungen.”
Laut Experten hegen Entscheider vor allem die große Angst, durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz sich und andere wegzurationalisieren.

Drastische Prognose

Geht es nach Tech-Vordenker Jürgen Polterauer, ist das eine durchaus berechtigte Sorge: „Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz kann natürlich das Einkommen von Verlagen erhöhen – nachdem sie zwei Drittel davon umgebracht hat.”

Der Gründer der Dialogschmiede, österreichweit die größte Agentur für datenbasiertes Marketing, hat gute Gründe für seine drastische Prognose: „Generell wäre der Konsument sehr wohl bereit, für Medien zu bezahlen. Für Qualität und die Möglichkeit, zu konfigurieren, wann und wie er ausgesuchte Nachrichten bekommt.”
Laut Polterauers Vision für Fachverlage könnte Künstliche Intelligenz vor allem in den Bereichen der Nachrichtenfilterung, -erstellung und abschließenden Distribution zu einem Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz führen und das nicht nur im eigenen Land: „Ich glaube, es wird in Zukunft ganz viele automatisierte Nachrichtendienste geben.
Nachrichten zu beurteilen, Nachrichten einzuteilen, semantisch zu analysieren, das kann eine Maschine viel besser als ein Redakteur. Das heißt, 95 Prozent werden Maschinen tun, und dann wird es fünf Prozent menschliche Mitarbeiter geben, die investigativen Journalismus, kreative Arbeit machen. Außerdem arbeitet KI global. Wenn ich eine KI für ein Marketing-Businessmagazin entwickle, dann ist es völlig egal, ob es auf Mandarin, Englisch oder Deutsch erstellt wird. Dadurch wird es auf jeden Fall zu einer Konzentration oder Bereinigung der Märkte oder Verlage kommen, noch dazu, wenn das Druckwerk wegfällt.”

Schnelle Wahrnehmung

Neben dem Einsatz im Medienmachen selbst sieht Brandreach-CEO Michael Vaclav die Stärken Künstlicher Intelligenz darin, Prozessstrecken zu entwickeln, die alltägliche Arbeiten im Marketing und Sales erledigen können: „Nachfassen bei Angeboten oder Kundenkommunikation, beispielsweise.” Gleichzeitig sieht er einen hohen Bedarf bei der Leserschaft an individualisiertem Content: „Statt des klassischen Newsletters könnte man zum Beispiel Themen definieren, von denen man weiß, dass sich diese Person dafür interessiert. Natürlich können sich Affinitäten ändern. Insofern ist es wichtig, das System auch immer wieder lernen zu lassen.”

Im Gegensatz zu Polterauer glaubt Vaclav nicht an die Zahlungsbereitschaft der Leser, sondern sieht die Geschäftsmodelle von Fachverlagen in Kombination mit Künstlicher Intelligenz in anderen Bereichen gelagert. „Ich denke, direkter Nutzen ist das Geheimnis, für das die Leute zahlen.” Genau dabei kann KI laut Vaclav pointiert eingesetzt werden: um wirklich zu segmentieren und zu filtern, wer sich wofür interessiert und was das „Next best Offer” sein könnte.

Konstante Veränderung

Im Gegensatz zu den dystopischen Prognosen, die derzeit durch die Medien gepeitscht werden, glaubt Vaclav nicht an die große Kündigungswelle in der Verlagsbranche durch den Einsatz von KI: „Ich glaube, der Verlag der Zukunft wird nicht weniger Leute haben, weder im Marketing noch in der Redaktion, aber das Tätigkeitsfeld wird sich dramatisch ändern.”

Polterauer wettet in seiner Voraussage stärker auf veränderte Geschäftsmodelle: „Ich glaube, dass sich die Verlage aufteilen werden. Es wird die Gruppe geben, die sich auf Content und Vermarktung spezialisiert. Und dann wird es einen Teil des ­Verlags geben, der sich nur mit der Distribution auseinandersetzt.”
Noch haben österreichische Verlage nicht damit begonnen, KI über die Forenwartung hinaus ins Tagesgeschäft einzubinden. Das liegt einerseits an der Furcht vor ungewissen Dynamiken, andererseits an historisch gewachsenen Hindernissen, wie nicht zusammengeführten Datensilos.
Will man mit den weltweiten Entwicklungen Schritt halten und die direkte Ansprache der Kunden auf allen Kanälen forcieren, gilt es, eine Pause einzulegen, die runden Räder der Mitbewerber auf der Überholspur zu studieren und möglicherweise selbst zum Vorreiter zu werden, wenn auch zuerst mal nur im Herzen Europas. (ssch)

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