Von der Lockdown-Ära in die Versorgungskrise
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MARKETING & MEDIA Redaktion 19.08.2022

Von der Lockdown-Ära in die Versorgungskrise

Die Inflation hat Corona aus den Schlagzeilen verdrängt, Handel und Industrie schauen nervös auf den Herbst.

••• Von Paul Hafner

WIEN. "Wie hört das auf, wie wird das weitergehen?”, ließ Wolfgang Ambros vor 45 Jahren den verzweifelten Prota­gonisten seines gleichnamigen Liedes fragen. Aktuell stellt sich die Frage gleichermaßen der gesamten Bevölkerung wie dem Handel und der Industrie. Der sorgenvolle Blick nach vorn ist zum Sinnbild der letzten Jahre geworden, statt einer mancherorts beschworenen Wiederauflage der „Roaring Twenties” des vergangenen Jahrhunderts stehen die 2020er-Jahre im Zeichen einer multiplen Krise: Zweieinhalb Jahre nach dem Auftakt der Pandemie – fast pünktlich zum Beginn der neuen Dekade – ist eine nachhaltige Eindämmung dieser noch immer nicht absehbar, geschweige denn ihr Ende. Der nunmehr schon fast sechs Monate anhaltende Ukraine-krieg hat im Zusammenspiel mit der Pandemie (und den aus ihr resultierenden Lieferschwierigkeiten sowie der Rohstoffkrise) die Weltwirtschaft in eine veritable Krise gestürzt, die sich in der österreichischen Bevölkerung mit der höchsten Inflationsrate seit den 1970er-Jahren und einer Explosion der Energiekosten bemerkbar macht.

Laut einer aktuellen Mindtake-Umfrage im Auftrag des Handelsverbands geben 97% der Österreicher an, die Auswirkung der Teuerung auf den eigenen Haushalt zu spüren; sieben von zehn haben darum ihre Ausgaben in den letzten Wochen eingeschränkt, fast jeder Vierte (23%) muss sich bereits auf den Kauf lebensnotwendiger Güter beschränken. Mit dem Ende der Lockdown-Ära und ihrer „verminderten Kauflaune” standen die Zeichen nur ganz kurz auf Erholung – die Angst vor weiteren, einschneidenden Eindämmungsmaßnahmen (auf Bürger- wie Unternehmensseite) ist, analog zum medialen Fokus, jener vor einer Energieversorgungskrise gewichen.

Ruf nach Systemreform

Anders als vor Covid-19 gibt es für den Einzelnen vor den aktuellen und bevorstehenden Herausforderungen kein präventives häusliches „Verstecken”. Mit Blick auf die steigenden Energiekosten ist geradezu das Gegenteil der Fall – zumal Lockdowns und Homeoffice-Verordnungen nicht zuletzt im Sinne des ausgerufenen Gebots zum Energiesparen im kommenden Herbst und Winter beinahe sicher auszuschließen sind.

Während das Ausmaß der Kostenbelastung für Privathaushalte angesichts diskutierter politischer Interventionen wie einer Deckelung bei der Stromrechnung, wie sie Wifo-Chef Gabriel Felbermayr ins Spiel gebracht hat, aktuell nicht abschätzbar ist, belaufen sich die Preise im Großhandel für 2023 im Ein-Jahres-Vergleich auf ein Vielfaches: Strom ist um 600%, Gas um 750% teurer als vor einem Jahr.
„Diese Preise werden zeitverzögert bei Haushalten und Wirtschaft ankommen. Ohne rasche Systemreform wird es grimmig”, meint Ex-Bundeskanzler Christian Kern, der von 2000 bis 2010 erst als Geschäftsführer und später als Vorstandsmitglied beim Verbund, Österreichs größtem Elektrizitätsunternehmen, tätig war. Sieger kennt die Versorgungskrise abseits der Energiekonzerne keine, weder im Handel noch in der Industrie – ein wesentlicher Aspekt, der die momentane Phase der Krise vom Corona-Jahr 2020 unterscheidet, als bekanntlich insbesondere der LEH zum Krisengewinner avancierte.

Umsatzeinbruch im Juni

Gemäß Zahlen der Statistik Austria musste der heimische Einzelhandel im Juni 2022 einen inflationsbereinigten Umsatzrückgang von 5,5% hinnehmen, im Non-Food-Handel liegt das Minus sogar bei 8,3%. Der preisbereinigte Halbjahresvergleich 2022 (im Vergleich zum 1. Halbjahr 2021) zeigt für den gesamten Einzelhandel ein minimales Umsatzplus von 0,2%.

Allerdings hatten die heimischen Non-Food-Handelsbetriebe im ersten Halbjahr 2021 auch bis zu acht Lockdown-Wochen geschlossen. Daher wird hier tatsächlich ein dickes Minus verzeichnet – und auch der von den Schließungen ausgenommene LEH verzeichnete hier ein deutliches Minus von 4,9%.

Billig statt Bio?

„Der Handel verzeichnete im ersten Halbjahr 2022 in fast allen Warengruppen deutliche Verluste aufgrund der multiplen Krisen, die eine eklatante Kaufkraftschwächung ausgelöst haben”, bilanziert Handelsverband-Geschäftsführer Rainer Will.

Das Minus im LEH untermauert, dass nun auch bei den Lebensmitteln gespart wird. Es bleibt abzuwarten, inwiefern die gemäß Mindtake-Umfrage stark gestiegene Bereitschaft zum Kauf günstiger Lebensmittel und Diskont-Eigenmarken die Umsatzentwicklungen von Supermärkten und Diskontern, aber auch Bio- und Fairtrade-Lebensmitteln beeinflusst.
Der Appell von Nah&Frisch-Geschäftsführer Hannes Wuchterl Anfang des Jahres, „extrem wachsam” zu sein und „genau auf die Kostenseite zu schauen und sich entsprechend auf andere Umsatzniveaus als 2020 und 2021 einzustellen”, hat sich im Lichte der sich seither beständig nach oben korrigierenden Jahres-Inflations-Prognosen als hellsichtig erwiesen; längst sind Ökonomen davon abgekommen, die unmittelbare Wende zu prophezeien.

Euro-Raum in der Zwickmühle

Anders als in den USA, wo infolge des unerwartet deutlichen Rückgangs der Inflation von 9,1% auf 8,5% erste Experten den Höhepunkt der Teuerung für überschritten erklärt haben (und dafür viel Skepsis ernten), kletterte die Inflation im Euro-Raum im Juli abermals auf 8,9% (+0,3%) – in Österreich dürfte sie sogar noch knapp darüber (9,2%, +0,8) liegen. Hauptverantwortlich dafür machen Volkswirte zum einen das zaghafte Agieren der Europäischen Zentralbank, die anders als ihr amerikanisches Pendant (Federal Reserve System, meist kurz „Fed”) zu lange mit der Anhebung des Leitzinses gezögert habe (was wiederum mit der heiklen Heterogenität der Volkswirtschaften der Euro-Länder zusammenhängt), als auch die Abhängigkeit vom russischen Gas, die im Euro-Raum wesentlich ausgeprägter ist als in den USA.

Damoklesschwert „No Gas”

Apropos Gas: Wenngleich der neue Erste Group-Chef ­Willi Czernko kürzlich gegenüber dem Standard erklärte, man sei „zutiefst überzeugt, dass das Szenario ‚No Gas from Russia' nicht eintritt”, und er von einer „Prolongation des Status quo” ausgeht, schwebt die Gefahr eines kompletten Gas-Lieferstopps aus Russland wie ein Damoklesschwert über Österreichs Lebensmittelindustrie – und insbesondere über der Milchwirtschaft: „Wir sind im Processing sehr Gas-lastig. Sollte es hier zu Ausfällen kommen, haben wir ein Problem mit der Versorgung, dann steht der Betrieb still, inklusive der Abholung der Rohmilch bei allen Bauern”, malte Nöm-Vorstand Alfred Berger bereits vor dem Sommer ein dramatisches Bild.

Klartext sprach in diesem Zusammenhang auch Helmut Petschar, Präsident der Vereinigung Österreichischer Milchverarbeiter und Geschäftsführer der Kärntnermilch, der für den Krisenfall offen eine Priorisierung der Milchwirtschaft bei der Gasversorgung einfordert und auf ihre „wesentliche Rolle bei der Lebensmittelversorgung” pochte.

Preisbremse: Modell in Arbeit

Anders als in Deutschland hat sich in Österreich über den Sommer keine breite Debatte über eine Priorisierung einzelner Industriezweige ergeben; das letzte produktive Signal im Umgang mit der Teuerung seitens der Regierung war ein Bekenntnis von Finanzminister Magnus Brunner zur von Felbermayr angedachten Rechnungsdeckelung; Brunner kündigte an, bis Ende August ein Modell für eine Gas- und Strompreisbremse vorlegen zu wollen, welches die Subventionierung gewisser (am Durchschnittsverbrauch orientierter Strommengen) vorsehe.

Wie es weitergehen wird

In Wien ist die Verteuerung von Fernwärme um 92% für Privathaushalte ab 1. September besiegelt, eine Gegenmaßnahme steht nicht im Raum. Für Strom und Gas hält Kern (aufgrund gleichbleibender Netzgebühren, Abgaben und Steuern) österreichweit eine „Verdrei- bis Vervierfachung” der Haushaltsrechnungen für plausibel – die Preisbremse wird also zur Zeitfrage, und jede Verzögerung wird negativ auf die Kaufkraft durchschlagen. Für Österreichs Unternehmen ist das aktuell zweitrangig: Der im Gasnotfallplan fixierte Umstieg von Gas auf Erdöl kommt nur für ein Zehntel der Betriebe infrage, das „No Gas”-Damoklesschwert schwebt weiter über ihnen. Ob es fällt oder nicht – mit Insolvenzen wird in jedem Fall zu rechnen sein.

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