Wie viel EU braucht das Gesundheitswesen?
© APA/AFP/Sebastien Bozon
HEALTH ECONOMY Redaktion 31.05.2024

Wie viel EU braucht das Gesundheitswesen?

medianet hat die Spitzenkandidaten der Parteien im Vorfeld der Europawahl 2024 zum Health-Talk gebeten.

••• Von Evelyn Holley-Spiess

Engpässe bei Medikamenten, Personalmangel an allen Ecken und Enden, Kostendruck im Spitalsbereich und fehlende niedergelassene Angebote: Mit diesen Problemen ist das heimische Gesundheitswesen nicht allein in Europa. Auch andere Staaten stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Deutschland plante etwa eine Spitalsreform und will ähnlich wie Österreich die Versorgung im niedergelassenen Bereich stärken.

Pharma, Daten, Personal

Doch wie können diese Aufgaben am effektivsten gelöst werden – nationalstaatlich oder doch auf EU-Ebene? Und welche Initiativen braucht es ganz konkret? medianet hat dazu die EU-Spitzenkandidaten der im Europaparlament vertretenen heimischen Parteien gefragt. Denn die Wahl ist bald geschlagen, die Probleme aber bleiben und die EU-Kommission plant wie berichtet mehrere Reformpakete im Gesundheitswesen.

Reinhold Lopatka (ÖVP), Andreas Schieder (SPÖ), Harald Vilimsky (FPÖ), Lena Schilling (Grüne) und Helmut Brandstätter (Neos) stehen Rede und Antwort wie sich die EU als Pharma-Standort behaupten wird müssen und welche Akzente es für eine EU-weite erfolgreiche Arbeitsmarktstrategie im Gesundheitswesen braucht.

Reinhold Lopatka (ÖVP)
„Als Europäische Union müssen wir bei den großen Fragen wie der Versorgung mit Medikamenten ­zusammenhelfen. Der gemeinsame Binnenmarkt ist eine der größten Errungenschaften und Chancen der EU, das müssen wir auch bei der Arzneimittelversorgung zu unserem Vorteil nutzen. Es muss eine Priorität sein, die Produktion von Medikamenten, vor allem von essenziellen Medikamenten, in Europa zu fördern und den bestehenden Unternehmen gute Bedingungen zum Erhalt ihrer Produktion in Europa sichern zu können. Was den Personalmangel im Gesundheitswesen angeht, ist es wichtig, die Aus- und Weiterbildung europaweit zu ­forcieren. Die schnellere Anerkennung ausländischer Qualifikationen in Österreich und der EU spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle beim Gewinn von zusätzlichem Gesundheitspersonal. Hier gibt es auch mit anderen EU-Ländern noch Möglichkeiten, die Zusammenarbeit zu verstärken und aus­zubauen.“

Andreas Schieder (SPÖ)
„Die Europäische Union muss ihre strategische Unabhängigkeit stärken, damit es zu keinen Engpässen bei Grundmedikamenten und lebensrettenden Medizinprodukten kommt – dazu gehören sichere Lieferketten wie auch die Förderung von Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Forschung für eine nach­haltige pharmazeutische Industrie in Europa. Es braucht EU-weite Investitionen in medizinische Forschung sowie ­Vorratsbildung von notwendiger medizinischer Ausrüstung und Medikamenten. Zur Lösung des Personal­mangels ist es erforderlich, europaweit Ausbildungsoffensiven zu starten. Darüber hinaus wäre es wünschens­wert, wenn die Europäische Kommission Vorschläge vorlegen würde, wie die Anwerbung von Arbeits- und Fachkräften gemeinschaftlich für ganz Europa gelingen kann – auch, um gemeinsame
arbeits- und sozialrechtliche Standards für ganz Europa für neu aufgenommene qualifizierte Arbeits- und Fachkräfte zu erreichen.“

Harald Vilimsky (FPÖ)
„Die Arzneimittelindustrie darf nicht mit überschießenden, die Produktion noch weiter verteuernden oder ins Ausland verdrängenden Umweltauflagen belastet werden. Alle nationalen Handelsbeschränkungen für ­Arzneimittel im europäischen Binnenmarkt zwischen Industrie und Großhandel beziehungsweise Einzel­handel, also Apotheken, sind zu beenden. Außerdem muss die Resilienz in der Arzneimittelversorgung erhöht werden – durch verstärkte Anreize für die europäische Produktion und eine breit aufgestellte ­Vertriebskette. Dazu gehört die Belieferungspflicht der Hersteller an den vollsortierten pharmazeutischen Großhandel. Punkto Personalmangel helfen europäische Initiativen hier wenig. Die Gesundheitsversorgung muss vor Ort und damit in Österreich professionell organisiert werden. Es braucht eine Evaluierung des ­Personalbedarfs auf allen Ebenen des Gesundheitswesens, eine „finanzielle Fairness“ gegenüber Mit­arbeitern, eine Kompetenzerweiterung in den Berufsbildern und die Weiterbeschäftigung älterer Ärzte.“

Lena Schilling (Grüne)
„Wir werden gut daran tun, diese Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Einerseits wollen wir eine stärkere Koordinierungsrolle für die Europäische Arzneimittelagentur (EMA). Dabei geht es nicht nur um die Zulassung von neuen Produkten, sondern auch um das Überwachen von Arzneimittelengpässen durch die nationalen Behörden. Darüber hinaus braucht es eine frühzeitige Meldung von Engpässen und Arzneimittelrücknahmen sowie Engpasspräventionspläne. Besonders wichtig: Wir sollten die Arzneimittelproduktionen wieder zurück nach Europa bringen und in weiterer Folge darauf achten, dass die Verteilung der Produkte gesamteuropäisch stattfindet. Um den Personalmangel in den Griff zu bekommen, müssen wir Regelungen der legalen Zuwanderung schaffen. Zur Anwerbung von Fachkräften braucht es den Ausbau des „EU Talent Pool“ Skills-Matching-Mechanismus. Die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen sollte außerdem schneller und unbürokratischer ablaufen.“

Helmut Brandstätter (Neos)
„Es braucht mehr Transparenz zwischen den Mitgliedsstaaten – viele Engpässe könnten durch einen besser geregelten beziehungsweise transparenteren Markt zwischen den Ländern auch besser geregelt werden. Ein zweites Thema ist die Attraktivität des Forschungsstandorts: Bestimmte Bereiche der Produktion werden in Europa nicht attraktiver werden können als in Billiglohnländern. Europa muss sich deshalb auf seine Kompetenzen konzentrieren und mit besten Forschungsbedingungen aus seinem Wissensvorsprung das nötige Kapital schöpfen, um pharmazeutische Unternehmen zu halten. Was den Personalmangel betrifft, haben sich fast alle Länder der EU in der La Hulpe-Deklaration zu einer besseren Zusammenarbeit in Sozialsicherungsbereichen und damit auch Pflege und Gesundheit und im Hinblick auf Arbeitsbedingungen bekannt – ein wichtiger Kernpunkt. Wir müssen aber auch auf nationaler Ebene an einer Modernisierung unserer Gesundheits- und Pflegelandschaft arbeiten, um den Personalmangel zu mildern.“


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