Thought Leaders 2015
© AFP Photo/Dagens Nyheter/Lotta Hardelin
Gemeinsamkeit­Internationale Stimmen wie Edward ­Snowden und Papst Franziskus dominieren auch den deutsch- und spanischsprachigen Raum – eine Parallele zum globalen Ranking.
INDUSTRIAL TECHNOLOGY 18.12.2015

Thought Leaders 2015

Wer prägt heuer unser Denken? Das GDI präsentiert mit MIT-Forscher Peter Gloor und der WorldPost einmal mehr die einflussreichsten Ideengeber der Welt.

••• Von Detlef Gürtler, Karin Frick und Peter Gloor


Ideen können groß werden. Sie werden diskutiert, bekämpft, verarbeitet und führen zu nachhaltigen Veränderungen in der Gesellschaft, wenn sie sich durchsetzen. Aber das schaffen nicht viele. Die schnellen und die großen Ideen haben zweierlei gemeinsam: Sie müssen unter den Menschen verbreitet werden – und von Menschen erdacht werden. Das GDI Gottlieb Duttweiler Institute und The WorldPost haben in Zusammenarbeit mit dem MIT-Forscher Peter Gloor die wichtigsten Taktgeber der globalen Konversation ermittelt. Neben der schon traditionellen Analyse, die sich auf die Medien der Weltsprache Englisch stürzt, wurden zusätzlich der deutsche, der spanische und der chinesische Sprachraum untersucht. In vier Listen finden sie fast 400 zeitgenössische Denker.

Die Methodik

Als Thought Leader kommt infrage, wer als Denker agiert, über die Grenzen des eigenen Fachgebiets hinaus bekannt und einflussreich ist. Für mehr als 203 Personen – vorgeschlagen vom GDI, der Redaktion von The WorldPost und von Redakteuren von El Pais, Univision/Fusion, Guancha.cn und The European – wurde die Thought Leader-Analyse für den englischen, deutschen, spanischen und den chinesischen Sprachraum durchgeführt. Die von MIT-Forscher Peter Gloor entwickelte Software der Firma Galaxyadvisors berechnet die Betweenness-Centrality genannte Relation zwischen den Personen in der Infosphäre: Blogosphäre, Twitter-Sphäre sowie (englischsprachige) Wikipedia-Sphäre. Für Letztere wurde zusätzlich die Degree Centrality sowie die Zahl der Wikipedia-Seiten in verschiedenen Sprachen erhoben. In allen Kategorien wurden Platzziffern gebildet und addiert. Je niedriger die Summe der Platzziffern, desto besser die Gesamtplatzierung. In anderen Sprachversionen wurde zum Teil anders gewichtet. So wurde in der deutschsprachigen Rangliste die Twitter-Sphäre nicht bewertet, da die Quantität der deutschsprachigen Tweets hinter denen auf ­Englisch oder Spanisch zurückbleibt.

Think global – act local

Das ist nicht nur ein bewährter Ratschlag für globale Unternehmen, es gilt auch für die Kommunikation. Der eigene Sprachraum ist den Menschen vertraut, in ihm und an ihm orientiert man sich eher als an globalen Diskursen. Auch wenn gerade bei den Intellektuellen die Bereitschaft (und die Möglichkeit) vorhanden ist, sich mit fremden Welten zu beschäftigen, steigt die Anschlussfähigkeit von Ideen, wenn sie mit der Lebenswirklichkeit der Gesellschaft korrespondieren. In allen Sprachräumen (außer dem deutschen) werden deshalb die Spitzenplätze der Thought Leader-Analyse überwiegend von Muttersprachlern belegt. Der Umgang mit den fremden, ungewohnten Anteilen der internationalen Ideen-Welt scheint dabei ähnlich zu funktionieren wie der Umgang mit fremden Nahrungsmitteln und Rezepten: Wir können alles überall konsumieren, und testen immer wieder Exotisches aus, um zu prüfen, ob es sich um eine Bereicherung handeln könnte – und wenn ein uns unbekanntes Gericht von Freunden, Kellnern oder Fernsehköchen empfohlen wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir den Versuch wagen. Manches davon wird zum dauerhaften oder gelegentlichen Teil unserer Food-Biografie, anderes bleibt ein einmaliger Versuch. Aber trotz aller Offenheit für fremde Einflüsse: Form, Ablauf und Bestandteile unserer Mahlzeiten spiegeln in aller Regel unsere Herkunft und unseren Kulturkreis wider – vom Kaffee (und nicht Wodka) über das Brot (und nicht Getreidebrei) bis zur Kartoffel (und nur manchmal Reis).

Die Kulturübergreifenden

Nur eine geringe Zahl von Intellektuellen schafft es, mehr oder weniger weltweit im Diskurs zu bleiben. Für 40 der Top-Ideengeber aus der Global-Thought Leader-Liste haben wir das ausprobiert, indem wir sie mit in die Kandidatenliste der drei anderen Sprachräume aufgenommen haben. Nur einer Handvoll von ihnen gelang es, in allen vier Ranglisten im vorderen Bereich zu landen – am besten Edward Snwoden, Mario Vargas Llosa und Zaha Hadid.

Die Medien der Thought Leader

Für die Verbreitung von Ideen spielen weiterhin Medien eine entscheidende Rolle. In der Vernetzungsgrafik der Thought Leader in der englischsprachigen Blogosphäre wird deutlich, welche dabei am wichtigsten sind. Von den fünf wichtigsten Medien beziehungsweise Quellen sind zwei traditionelle Protagonisten des globalen Diskurses – der britische Guardian und die New York Times. Zwei andere, Twitter und YouTube, gelten eher als Protagonisten des globalen Gesprächs, das fünfte der wichtigsten Medien, die Huffington Post, nimmt eine Zwischenposition ein zwischen schnell und wichtig ein.

Harvard vor Berkeley

Ähnlich wie bei den Nobelpreisträgern gibt es auch bei den globalen Ideengebern eine Ballung an und um einige wenige renommierte Universitäten. Und genau wie bei den Nobelpreisträgern liegt auf dem ersten Platz mit weitem Abstand: Harvard. Jeder fünfte aus der Liste der diesjährigen Thought Leader ist mit ihr verbunden. Auf den nächsten Plätzen folgen mit gehörigem Abstand die kalifornische Universität Berkeley und das MIT aus Boston. Als beste nicht-amerikanische Universität liegt Oxford auf Platz 4 – und keine einzige nicht-angelsächsische Universität schafft es in dieser Wertung unter die Top Ten.

Weniger Frauen an der Spitze

Waren 2014 noch zwei Frauen unter den zehn bestplatzierten Ideengebern, so ist es in diesem Jahr keine einzige – die erste Frau in der Rangliste ist auf Platz 21 Malala Yousafzai aus Pakistan. Ein besonderer Grund für die Rückgänge ist nicht auszumachen: Sowohl die Schimpansenforscherin Jane Goodall (Platz 9 im Vorjahr, jetzt 32) als auch die Globalisierungskritikerin Naomi Klein (Platz 10 im Vorjahr, jetzt 77) sind weiterhin in den Top 100 vertreten, was als Beleg für dauerhaft hohen Einfluss gewertet werden kann. Und wenn man diese Gruppe der Top 100 als Maßstab nimmt, so dreht sich das Ergebnis sogar um: Waren im vergangenen Jahr 12 Frauen unter den 100 einflussreichsten Ideengebern der Welt, so sind es dieses Jahr 14.

Globaler/deutscher Sprachraum

Große Ideen können die Welt verändern. Und die Denker in dieser globalen Rangliste tragen mit ihren Ideen dazu bei. Die besten Platzierungen waren diesmal mit guten Werken oder guten Geschichten zu erreichen. Der Frauenanteil in den Top 100 hat sich zwar von 12 auf 14 erhöht – aber in den Top Ten ist er von 2 auf 0 gefallen. Platz 1 geht an Papst Franziskus, ihm folgen Paolo Coelho und Muhammed Yunus. Die einflussreichsten Ideengeber in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigen diesmal eine Besonderheit, die uns noch bei keiner Untersuchung in den vergangenen Jahren vorgekommen ist: Auf den vordersten Plätzen finden sich fast nur Nicht-Muttersprachler – nur ein Deutscher ist unter den Top Ten. Edward Snowden, letztes Jahr noch auf Platz 3, hat den Sprung ganz nach vorn geschafft, auf den Plätzen liegen Architektin Zaha Hadid und Papst Benedikt XVI.

China Inside

Eines der großen Hindernisse bei der Analyse des Einflusses von Intellektuellen in China ist die relativ starke Abschottung des innerchinesischen Internets vom Rest der Welt. Das betrifft sowohl eine technische Abgrenzung mit teilweise blockierten Inhalten als auch die Eigenständigkeit der Anbieter: Überall in der Welt wird gegoogelt, nur in China nutzt man Baidu. Dadurch sind die chinesischsprachigen Bereiche des regulären Internets nicht repräsentativ für die Konversation innerhalb Chinas. Für die Untersuchung der Infosphäre innerhalb Chinas wurden deshalb drei Baidu-Dienste ausgewertet: Die Zahl der Suchergebnisse auf Baidu Search (arithmetisches Mittel aus zwei Suchen im Abstand mehrerer Wochen), die Länge des biografischen Eintrags bei Baidu Baike (mit Wikipedia vergleichbar), und Baidu Index, am ehesten mit Google Trends vergleichbar. Obwohl bei der Thought Leader-Analyse aktive Politiker üblicherweise nicht gewertet werden, wurde Premierminister Xi Jinping außer Konkurrenz mitgezählt. Es hätte für ihn knapp für Platz eins gereicht, vor dem Politveteranen Henry Kissinger, dem Alibaba-Gründer Jack Ma und dem Literaturnobelpreisträger Mo Yan.

China Outside

Die Systematik unserer Thought Leader-Untersuchungen stößt bei der chinesischsprachigen Infosphäre an (Landes-) Grenzen, da Quellen wie Twitter, Google oder Wikipedia innerhalb Chinas kaum genutzt werden. Dementsprechend wurde hierfür eine andere Analyse-Methode verwendet. Bei einer Analyse unter Zuhilfenahme der Kriterien der anderen Sprachversionen (wie Wikipedia und Twitter) muss zur Kenntnis genommen werden, dass diese Medien fast nur von den chinesischsprachigen Personen außerhalb Chinas genutzt werden. Vernetzungsdiagramme können nur für diesen Teil erstellt werden, und auch die Resultate spiegeln eher die Konversation der Auslandschinesen wider. Regimekritiker sind entsprechend gut platziert – aber ein alter deutscher Papst noch besser. Der liegt auf Platz 1, vor Jane Goodall und Schriftsteller Mo Yan.

Viva España

Die einflussreichsten Ideengeber im spanischsprachigen Raum sind nur selten Spanier – aber dafür umso häufiger Latinos: 15 der Top 20 stammen aus Lateinamerika. Insgesamt scheint der hispanische Geist ziemlich weit links zu stehen. Nicht nur Fidel Castro auf Platz 1, auch die meisten der Denker auf den folgenden Plätzen sind eher in der linken Hälfte des politischen Spektrums verortet.
http://www.thoughtleaders.world/

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