••• Von Christian Novacek
WIEN. Zum hundertjährigen Jubiläum des Österreichischen Handelsverbands bezieht Geschäftsführer Rainer Will Stellung: Was im Lockdown-Zirkus falsch gelaufen ist, welche Schäden den Handel und die Wirtschaft noch lange begleiten werden, warum die Sonntagsöffnung nicht nur für die Händler gut ist und warum er auch schon mal bei Amazon geshoppt hat, wiewohl der Onlinegigant ein Wertevernichter für die heimische Wirtschaft ist.
medianet: Als Stimme des Handels müssen Sie mitunter Dinge aussprechen, die der Handel gern gesagt sieht, aber selbst nicht sagt …
Rainer Will: Wir haben uns immer bedingungslos für die Interessen aller heimischen Handelsunternehmen eingesetzt und wir scheuen uns nicht davor, Klartext zu reden. Wir haben dadurch nicht nur Freunde gewonnen, können damit aber sehr gut leben. Das schätzen auch die Betriebe und sie nutzen uns gerne als Sprachrohr.
medianet: Wie ging es Ihnen damit zu Zeiten der Coronakrise?
Will: Wir sind eine Schlechtwetter-Versicherung, die sich gerade in Zeiten der Coronakrise bewährt hat. So konnten wir auch unsere Mitgliederanzahl verzehnfachen!
medianet: Ein Hauptargument für die Öffnung des Handels lautet Ihrerseits darauf, dass die Ansteckung nicht im Handel passiert. Wie fundiert ist diese Aussage?
Will: Die Gefahren von Covid-19 und der Ernst der Lage sind uns bewusst. Doch der Handel ist kein Corona-Hotspot. Das beweisen die Lebensmittelhändler, welche die Grundversorgung der Bevölkerung Tag für Tag sicherstellen. Und das belegen auch die Clusteranalysen der Ages: Fast 70 Prozent aller Corona-Infektionen passieren im Haushalt, 15 Prozent in der Freizeit. Im Einzelhandel konnte hingegen bis dato kein Corona-Cluster nachgewiesen werden. Das Zusperren der Geschäfte reduziert die Corona-Fallzahlen nicht, dafür ist der Kundenkontakt zu lose und die durchschnittliche Einkaufsdauer mit 13 Minuten zu kurz.
medianet: Die durchschnittliche Einkaufsdauer würden Konsumenten, die sich bei Billa Plus wochenends eine halbe Stunde an der Kassa anstellen, vielleicht anders berechnen.
Will: Um eines klarzustellen: Es spricht in Zeiten einer historischen Krise nichts gegen harte gesundheitspolitische Maßnahmen. Wir haben jede sinnvolle Maßnahme unterstützt. Im Gegenzug erwarten wir uns eine klare, nachvollziehbare Strategie und politische Entscheidungen, die auf wissenschaftlicher Evidenz basieren, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
medianet: Die wissenschaftliche Evidenz ist aber keine Konstante.
Will: Diese Position kann man gerne kritisieren, natürlich gehen die Meinungen über die richtige Art und Weise von Öffnungsschritten weit auseinander. Gab es Menschen, die negativ auf unsere Forderung nach differenzierten Öffnungsschritten reagiert haben? Natürlich. Wichtig dabei ist, alle Meinungen zu hören, aber sich auf den eigenen Hausverstand, die Praxisnähe und auf das wissenschaftliche Fundament zu verlassen. Dadurch entsteht ein roter Faden, eine gewisse Logik, die für die Menschen leichter nachvollziehbar ist. Der überwiegende Teil der Rückmeldungen von verschiedensten Stakeholdern ist sehr positiv, und das gibt uns Kraft.
medianet: Nach mehr als einem Jahr mit Lockdowns und Einschränkungen: Wie würden Sie das Schadensausmaß der Krise beschreiben?
Will: Das Schadensausmaß der Krise ist enorm. Oftmals blickt man ‚nur' auf die eine Milliarde Euro Umsatzverlust pro Woche, die verzeichnet werden, wenn es zu einem harten, bundesweiten Lockdown kommt. Allein die Umsatzverluste für die ‚Osterruhe' im Osten belaufen sich auf 1,95 Milliarden Euro.
medianet: Was sind die unschönen Nebeneffekte abseits des Umsatzverlusts?
Will: Die mittel- und langfristigen Schäden werden oft ausgeblendet oder nicht verstanden. Betriebsschließungen, Insolvenzen, Arbeitslosigkeit und soziale und psychische Auswirkungen werden uns noch jahrelang begleiten. Daher habe ich immer das Motto ‚Leben und Wirtschaften mit dem Virus' geprägt, dem sich die Politik leider nur zaghaft angeschlossen hat.
medianet: Wie waren die Auswirkungen im Branchenvergleich?
Will: Da hat es den Modehandel mit einem dramatischen Umsatzeinbruch von 25 Prozent am schlimmsten getroffen, aber auch der Spielwaren-, Schmuck- und Schuhhandel musste Verluste von weit über 15 Prozent im Vergleich zu 2019 hinnehmen. Händler in Tourismusregionen und Großhändler, die die Gastronomie beliefern, haben dramatische Umsatzausfälle bis hin zu Totalausfällen. Je kleiner der Betrieb, je weniger digital und je abhängiger vom Tourismus, desto geringer die Liquiditätsreserven und desto dicker das Minus.
Die Hälfte der Betriebe hat Existenzängste, ganze 42 Prozent können eingehende Rechnungen nicht mehr bezahlen. Aktuellen Studien zufolge müssen in den nächsten zwei Jahren bis zu 5.000 Geschäfte schließen.
medianet: Was ist für Sie im Kontext das größte Versäumnis der Regierung in Sachen Krisenmanagement?
Will: Die Entscheidungsträger haben ihr Bestes gegeben, um die Situation schnellstmöglich unter Kontrolle zu bringen. Dafür gebührt den Verantwortungsträgern großer Dank. Mittlerweile befinden wir uns alle seit mehr als 14 Monaten im Krisenmodus. Der erste harte Lockdown war nachvollziehbar, da man nichts über das Virus wusste. Danach hat sich das geändert, doch die Antworten blieben die gleichen. Es wurde zu wenig zwischen jenen Branchen differenziert, die Hotspots sind, und jenen, auf die das eben nicht zutrifft.
medianet: Ich bin etwas erstaunt über die Dankbarkeit, denn so optimal ist es für den Handel abseits des LEH ja nicht gelaufen.
Will: Natürlich ist nicht alles optimal gelaufen, auch nicht bei uns in Österreich. Die EU hat durch langsame Reaktionen auf die Krise und zögerliche Entscheidungen beim Impfdosenankauf die Chance bei den Bürgern verspielt und muss sich nun selbst rechtfertigen. Der ‚Grüne Pass' wird die nächste Bewährungsprobe.
medianet: Konkret: Was lief falsch?
Will: Die Politik hat einen Aspekt ausgeblendet: den sofortigen Liquiditätsbedarf für die Betroffenen. Das Ausmaß an Bürokratie wurde dadurch erst spürbar und sollte uns eine Lehre sein. Gleichzeitig wurden viele Hilfen als nicht fair wahrgenommen, da die Bemessung auf Vorjahre jene bestraft hat, die wirtschaftlich gewachsen sind und schrumpfende Firmen bevorzugt wurden. Einige Instrumente wurden aus Sicht der Händler deutlich zu niedrig dotiert, etwa der Ausfallsbonus mit grundsätzlich max. 60.000 Euro oder der Umsatzersatz mit 800.000 Euro. Andere haben zu hoch angesetzte Eintrittsschwellen, beispielsweise der Fixkostenzuschuss ab einem Umsatzausfall von mindestens 30 Prozent.
medianet: Derzeit stehen die Zeichen auf verhaltenen Optimismus …
Will: Die Umsätze haben sich zuletzt in den Geschäften gut entwickelt. Aufgeholt werden nur 25 Prozent der verlorenen Umsätze der harten Lockdowns, denn die Menschen haben sich an die neuen Bezugswege im E-Commerce gewöhnt, wodurch viele Kunden für manche Händler dauerhaft verloren sind.
Konsum ist Psychologie, daher haben wir uns stets für ein ‚Klima der Zuversicht' eingesetzt. Das gilt es besonders in Krisenzeiten zu vermitteln. Doch in der Praxis war vielfach das Gegenteil der Fall, wodurch sich die Sparquote in Österreich verdoppelt hat. Daher glaube ich an einen starken Trend hin zu mehr Konsum, der mit jedem Lockerungsschritt zunehmen wird. Die Ausgaben werden aber auch dort hinfließen, wo Lebensqualität, Erleben, Entspannung und Geselligkeit eine Rolle spielen: Reisen, Kunst, Kultur, Restaurant- und Bar-Besuche.
medianet: Kommt jetzt der große Konsumrausch?
Will: Ein Konsumrausch allein wird die Branchen nicht retten, viel entscheidender ist, wo konsumiert wird – beim stationären Händler ums Eck, oder beim Online-Multi aus Übersee oder Fernost. Denn eines muss uns allen bewusst sein: Während heimische Unternehmen Milliarden an Gebühren, Zwangsabgaben und Steuern leisten und damit auch Sozialtöpfe finanzieren, kassieren digitale Giganten ohne Betriebsstätte in Österreich Jahr für Jahr Steuergutschriften. Erstere zahlen die Krisenschulden, während Letztere unseren Staatshaushalt belasten, ohne etwas zum Gemeinwohl beizutragen. Digital Champions wie Amazon dürfen sich Jahr für Jahr über Rekordgewinne freuen, die jedoch gegen ‚null' optimiert werden, damit keine Steuerleistungen anfallen.
medianet: Die Erwartung einiger Händler als zusätzliche Kompensation für entgangene Umsätze läuft in Richtung Lockerung der Öffnungszeiten – Stichwort Sonntagsöffnung.
Will: Wir sehen die Sonntagsöffnung grundsätzlich positiv, allerdings nur auf einer freiwilligen Basis. Jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter und jeder Händler sollte meiner Meinung nach frei entscheiden dürfen, ob er am Sonntag aufsperren mag oder nicht. Niemand darf dazu gezwungen werden. Es gibt aber genügend Mitarbeiter, die gerne freiwillig am Sonntag arbeiten würden – weil sie mit den Sonntagszuschlägen in der gleichen Zeit wie werktags das Doppelte verdienen können.
medianet: Wie tragfähig sind die bestehenden sonntäglichen Ausnahmeregelungen?
Will: 60 Ausnahmeregelungen sind zu viel, der Bürokratie-dschungel hemmt unsere Wirtschaftskraft. Gänzlich aus der Reihe tanzt übrigens das Bundesland Wien: Der Touristen-Magnet Nummer 1, der bundesweit mit Abstand am meisten Gäste anzieht, versagt ebendiesen seit Jahren ein Angebot am Sonntag, das es ermöglichen würde, die vorwiegend ausländische Kaufkraft in Umsätze und damit Arbeitsplätze und Steuereinnahmen umzuwandeln. Wir haben das strengste Öffnungszeitengesetz Europas und die höchsten Lohnnebenkosten und Zuschläge. Deshalb finden wir als Handelsverband, dass es den Händlern selbst überlassen werden sollte, ob sie an Sonntagen öffnen wollen oder nicht.
medianet: Wie bewerten Sie den aktuellen Trend in Sachen E-Commerce?
Will: Wir haben in Österreich rund 14.500 Webshops – mehr als 2.000 davon sind im Zuge der Coronakrise entstanden. Der Onlinehandel ist im Corona-Jahr 2020 mit 17,4 Prozent so stark gewachsen wie nie zuvor. Mittlerweile hat der E-Commerce-Anteil am gesamten Einzelhandelsumsatz erstmals die Schallmauer von zwölf Prozent übertroffen, und das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Mittlerweile shoppen alle Altersklassen im Internet, und das veränderte Kundenverhalten ist offenbar gekommen, um zu bleiben.
medianet: Welche Rolle spielt Regionalität im E-Commerce?
Will: Der Trend zum regionalen Einkauf hält an – eine große Chance für die Webshops der D-A-CH-Region, mit europäischer Qualität zu überzeugen.
medianet: Haben Sie schon einmal bei Amazon bestellt?
Will: Als Beschwerdeführer beim erfolgreichen Wettbewerbsbeschwerdeverfahren des Handelsverbands gegen Amazon habe ich Testbestellungen durchgeführt. Es war mir wichtig, den Marktplatz fairer zu gestalten, damit österreichische Händler davon profitieren können – als ‚Tor zur Welt' ohne Abhängigkeit.
Je intensiver ich mich mit dem Geschäftsmodell und den Steuervermeidungsstrategien auseinandergesetzt habe, desto klarer wurde mir, dass hier entscheidende Regelungen fehlen. Die Politik hatte es vorgezogen, Fotos mit Amazon zu machen, anstatt ernsthafte Regulierungen umzusetzen. Bis heute fehlen Marktplatzhaftungen für Fake-Produkte oder nicht (vollständig) entrichtete Abfallgebühren. Daher brauchte es diese Beschwerde, um unser Umfeld und die betroffenen Entscheidungsträger wachzurütteln. Im Prinzip ist jeder Einkauf ein politisches Statement. Wir Konsumenten haben es selbst in der Hand: Wollen wir den regionalen Webshop unterstützen, der Mitarbeiter beschäftigt und zur Wertschöpfung in Österreich beiträgt? Oder geben wir unser Geld lieber beim milliardenschweren Tech-Konzern aus, der keine Gewinnsteuern bezahlt und nichts zum Gemeinwohl beiträgt?