Das Wettrennen der Ideologien
MARKETING & MEDIA Redaktion 27.08.2021

Das Wettrennen der Ideologien

Familie kann man sich nicht aussuchen, heißt es. Aber die eigene Realität kann man sich basteln.

Leitartikel ••• Von Sabine Bretschneider

WANDEL. Der österreichische Verhaltensbiologe Michael Taborsky beschreibt, in einem Gespräch mit der APA über sein neues Buch, die Entstehung sozialen Verhaltens mit drei Strategien: „Entweder sie (die Individuen, Anm.) kommen den anderen zuvor, indem sie quasi ein ‚um die Wette rennen' gewinnen. Sie können sich alternativ dazu die Ressourcen aber auch im Kampf einverleiben oder sich mit anderen verbünden, um Ressourcen zu teilen.”

Das Spannende daran: Das Prinzip gelte für Bakterien genauso wie für Menschen. Andererseits, kein Wunder: Die Unterschiede sind, grundsätzlich betrachtet, nur graduelle. Der Mensch hat insbesondere das Kooperationsprinzip für seinen letztendlich durchschlagenden hegemonialen Erfolg genutzt – man lasse sich nicht von dessen kriegerischer Historie ablenken, auch hier war die Gruppe erfolgreicher als der Einzelne. Und mit wem verbündet sichs am leichtesten? Mit der eigenen Verwandtschaft. ­Ansonsten hätte Darwins Evolutionstheorie nicht funktioniert. Allerdings ist das Prinzip der Verwandtschaft flexibler geworden. Nicht nur genetische Nähe lässt Bündnisse zu, auch die kulturelle verbindet. Die mittels ideologischer Stricke zusammengezurrte Wertegemeinschaft hält heute sogar oft besser. Linke, Rechte, Impf­gegner, Gelbwesten, Katholiken, Muslime … Auch als Taliban wird man nicht geboren, sondern innerhalb sozialer Strukturen geprägt. Realität, das meinen auch Kluge, ist ein soziales Konstrukt, das man per Umdeutung ändern kann.

„Generell scheinen persönliche Wertesettings immer fluider zu werden”, sagt Sozialwissenschaftler Bernhard ­Heinzlmaier (im Interview auf Seite 10) über den Wandel der Jugend-Milieus zu „Szenen”. Und: „Szenen sind keine künstlichen Gruppen, sondern erfahrungsadäquate posttraditionale Gemeinschaften. Die Bindungen im Szene-Kern sind von starken Gefühlen der Zusammengehörigkeit geprägt. ” Gleichzeitig scheint die Kluft zwischen den Gruppen so tief wie selten zuvor. Das „Wettrennen” um die Ressourcen wird demnach anspruchsvoller.

BEWERTEN SIE DIESEN ARTIKEL

TEILEN SIE DIESEN ARTIKEL