Orientierungsprobleme im Bürokratiedschungel
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MARKETING & MEDIA Redaktion 11.10.2024

Orientierungsprobleme im Bürokratiedschungel

Zu viel Bürokratie lähmt den Handel, zu wenig könnte ebenfalls teuer werden. medianet befragte Experten.

••• Von Georg Sohler

Österreichs Wirtschaft geht es nicht gut. Diese Einschätzung kommt nicht nur von einschlägigen Interessenvertretern, sondern auch etwa vor der Wahl von SPÖ-Parteirebell Nikolaus Kowall, seines Zeichens Hochschullehrer für internationale Wirtschaft an der Fachhochschule des BFI. Die Zahlen bestätigen dies, das reale BIP liegt laut Finanzministerium 2024 bei –0,6%, 2025 soll es 1,0% betragen. 2021 und 2022 lag es noch deutlich über vier Prozent. Die Gründe sind vielfältig und liegen nur bedingt im Einflussbereich der ­Politik. Die internationale Energiekrise, die die Inflation antreibt, lässt sich von Wien aus nur schwer in den Griff bekommen. Steuerreformen gestalten sich seit jeher schwierig; welche Auswirkungen das Budgetdefizit auf Unternehmen haben wird, ist auch noch völlig unklar. Wirtschaftskreise haben indes einen weiteren Schuldigen ausgemacht: die Über­regulierung.

„Wir sind überreguliert”

In welchen Bereichen wird das schlagend? „Überregulierung ist besonders in Bereichen wie Umwelt- und Nachhaltigkeitsregulierungen, Berichts- und Dokumentationspflichten sowie im Energie- und Innovationssektor sehr stark spürbar”, erklärt Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung, auf medianet-Anfrage. Er rechnet vor: „Beispielsweise wurden zwischen 2019 und 2023 etwa 850 neue Verpflichtungen auferlegt, was mehr als 5.000 Seiten an Rechtsvorschriften umfasst.”

Im WKÖ-Wirtschaftsbarometer gaben 86% der Unternehmer an, dass in ihrem Betrieb in den vergangenen fünf Jahren immer mehr Zeit und 85%, dass immer höhere Kosten für Bürokratie angefallen sind. Das lässt Rosemarie Schön, Leiterin der Abteilung Rechtspolitik in der WKÖ wissen: „Überregulierung verursacht Kosten, bindet Personalressourcen, verhindert Innovation, verringert Planungssicherheit, behindert Investitionen und kann zu Standortverlagerungen ins Ausland führen.”
Dies spürt man bei den Betrieben, wie Rainer Will, Geschäftsführer des Handelsverbands, bestätigt. „Wie groß der Druck ist, der auf unseren Unternehmen lastet, zeigt unsere aktuelle Mitgliederbefragung. 92 Prozent der Handelsbetriebe sagen, dass die bürokratische Belastung in den letzten fünf Jahren gestiegen ist”, meint er. „Kein einziges Unternehmen nimmt eine gesunkene bürokratische Belastung wahr.”
Ein konkretes Beispiel für eine unverständliche Regulierung erzählt Paul Pöttschacher, Head of Public Relations bei Rewe International AG. Laut einer aktuellen RegioData-Studie haben 580 Gemeinden in Österreich keinen Nahversorger. Abhilfe würden Selbstbedienungsboxen schaffen, aber diese personal­losen Boxen unterliegen derselben 72-Stunden-Öffnungszeitengrenze wie normale Supermärkte. Pöttschacher: „Es ist geradezu paradox, dass sich SB-Boxen an das Öffnungszeitengesetz halten müssen.”

Wieso, weshalb, warum?

Hier hindert also eine Vorgabe. Will liefert noch ein Beispiel: Etwa die Mietvertragsgebühr, wo jeder gewerbliche Mieter bereits bei Abschluss des Mietvertrages, also noch vor Eröffnung des Geschäfts, Tausende Euro vorab an den Staat bezahlen muss. Berechnungen von EcoAustria zeigen laut Schön, dass jeder Euro, der von den Unternehmen in Österreich für Informations- und Erfüllungspflichten weniger aufgewendet werden muss, das nationale BIP mittel- bis langfristig um 1,62 € erhöht.

WKÖ und IV kritisieren demzufolge auch das Lieferkettengesetz. „Ein Beispiel – ein mittelgroßes österreichisches Unternehmen bietet insgesamt 1.000 Produkte an”, legt Neumayer dar. „Nur für die Herstellung kauft es 15.000 Teile zu. Das bedeutet die Verantwortung für die Lieferanten der 15.000 Teile, deren Lieferanten der dafür benötigten 700.000 Komponenten und wiederum deren Lieferanten der elf Millionen Rohstoffe und Materialien.” Schön fasst zusammen: „Hier wird die Durchsetzung von an sich löblichen Umwelt-, sozialen Standards und Menschenrechten – hoheitsstaatliche Aufgaben – auf Unternehmen abgewälzt.”

Nur ein Aspekt von vielen

Die Bürokratiediskussion darf nicht zu Streichungen beim Arbeitsrecht, dem Arbeitnehmer- oder Umweltschutz führen, die wichtige Standards für Beschäftigte und die Gesellschaft darstellen. Das stellt Frank Ey, Referent in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien sowie Lektor an der WU Wien, klar. „Das allergrößte Problem für die Wirtschaft stellen aktuell die hohen Kosten, vor allem bei Energie und Rohstoffen, dar”, erklärt er im Interview. Von der EU-Kommission bis zu Interessenvertretungen werde nun versucht, Kosten an anderer Stelle zu sparen. Die Bürokratiediskussion sei da nur ein Aspekt von vielen. Einen laufenden Aufwand für das Lieferkettengesetz haben beispielsweise nur eine Handvoll, wirklich große Unternehmen.

Allerdings sollten auch aus seiner Sicht alle Pflichten von der EU- bis zur nationalen Ebene regelmäßig überprüft werden. „Man muss schauen, ob eine Regelung noch notwendig ist”, so Ey. „Vertreter der Gesellschaft, von Beschäftigten und von Unternehmen könnten Vorschläge für Regulierungen machen, die einer Evaluierung unterzogen werden sollten. Damit könne festgestellt werden, ob die Regeln noch nötig sind.” Die Kommission berechnet dies auch in Untersuchungen, allerdings hat das Haken. Es gebe beispielsweise einen jährlichen Bericht, der neue Gesetze hinsichtlich Bürokratie und Verwaltungslasten untersucht.
Darin erwähnt ist beispielsweise eine neue Richtlinie, die Beschäftigte vor Asbest schützen soll. Die Kommission sieht darin nur über 30 Mio. € Kosten, bei einem Nutzen von null Euro: „So kann es aber auch nicht sein, weil wer nicht krank wird, ins Spital muss, vielleicht in Frühpension gehen muss, spart letztlich Geld und kann weiterhin seinen Beitrag am Steueraufkommen leisten. Es muss immer die gesamte Volkswirtschaft berücksichtigt werden.”

Nichts tun ist teurer

Ey hat durchaus Verständnis für die Unternehmen, die im Rahmen des Green Deal zusätzliche Kosten stemmen müssen: „Aber die Mehrkosten, die entstehen, wenn Regeln fehlen, rechnet niemand mit ein. Da spreche ich nicht von Strafzahlungen wegen zu hohen CO2-Emissionen, sondern von Kosten infolge des sich immer weiter verschärfenden Klimanotstands wie Hochwasser, Dürre, Stürmen und so weiter.”

Ey führt auch das Beispiel der Finanzkrise 2008 an. Aufgrund fehldender Regulierungen im Finanzsektor wie bei der Vergabe von Hypothekarkrediten oder hinsichtlich des Eigenkapitals von Kreditinstituten entstanden Milliarden und Abermilliarden an Schäden.

Allen Recht getan …

Regulierungen dienen zudem dem Schutz der heimischen Wirtschaft. Bestimmte Berichtspflichten geben auch über den Zustand von Unternehmen Auskunft, mit denen Handelspartner Geschäfte betreiben. Ist die wirtschaftliche Situation schlecht, werden die Partner vorsichtiger agieren, als sie es ohne diesen Informationen tun würden.

Die EU-Entsende-Richtlinie soll Lohn- und Sozialdumping verhindern. Wenn beispielsweise ein ungarischer Arbeiter für ein Bauvorhaben nach Österreich entsandt wird, müssen laut EU-Vorgaben dieselben Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen wie unter anderem hinsichtlich des Lohns angewandt werden wie in Österreich.

… ist eine Kunst

Eine konkrete neue Vorgabe ist das Einwegpfand und hier zeigt sich schon, dass die Meinungen auseinandergehen. „Das Einwegpfand ist ein Beispiel für eine ‚gut gemeinte' Regulierung, die allerdings nicht notwendigerweise ‚gut gemacht' ist”, meint die IV. Der Handelsverband sieht das genau umgekehrt und meint: „Durch die Einbeziehung des Handels konnten viele Probleme schon im Vorfeld ausgeräumt werden.” Eine derartige Vorgehensweise wäre wünschenswert, geschehe aber nicht immer.

„Weniger ist mehr”

„In der kommenden Legislaturperiode braucht es deshalb eine starke Standort- und Wettbewerbsagenda. Dazu gehört auch, dass wir mit der Überregulierung Schluss machen”, stellt Will abschließend fest.

Eine Überprüfung der bestehenden Gesetzeswerke auf Überregulierung könnte zu einer erheblichen Entlastung der Unternehmen führen, schlägt Neumayer in dieselbe Kerbe. Er sieht hier die EU-Kommission in Verantwortung. Oder, wie es Schön formuliert: „Der Regulierungsgrundsatz muss lauten: ‚Weniger ist mehr'.”
Ey plädiert dabei für Augenmaß. Österreich habe auch bei EU-Vorgaben Spielraum, es sollten jedenfalls die Sozialpartner Lösungen finden, die möglichst alle Aspekte bedenken. Denn: „Man kann nicht blind einfach für jede neue Regelung eine oder zwei streichen. Wir dürfen nicht in die Situation kommen, dass dann wichtige Regeln fehlen, die irrsinnig viel Geld kosten.”

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