„Wir denken nur noch in Geschichten”
© Sabine Hertel
MARKETING & MEDIA Redaktion 27.10.2023

„Wir denken nur noch in Geschichten”

Heute.at wurde runderneuert, und die Printausgabe hat einen neuen Chefredakteur. medianet bat Clemens Oistric zum Interview.

••• Von Dinko Fejzuli

Nicht nur die Gratis-tageszeitung Heute hat mit Heute.at-Chefredakteur Clemens Oistric einen neuen Print-Chefredakteur, die Website selbst wurde einem Relaunch unterzogen. medianet nahm dies zum Anlass und bat Doppel-Chefredakteur Oistric zum ausführlichen Interview.


medianet:
Herr Oistric, Heute.at hat sich ein neues, eleganteres Design verpasst, und Sie sind auch zusätzlich Print-Chefredakteur geworden. Sie sprechen bei Heute.at vom ‚gehobenen Boulevard'. Was genau ist das aus Ihrer Sicht, was wäre dann das Gegenteil und was ist nun, zunächst, an Heute.at neu? Zu Print komme ich dann noch.
Clemens Oistric: Die Graduierungen am heimischen Boulevard-Markt sind – denke ich – für den Konsumenten ohnedies sehr deutlich erkennbar. Denken Sie zum Beispiel zurück an den Terroranschlag von Wien – da haben die User sehr deutlich den Unterschied zwischen einem Reichweitenmedium mit Herz und Brachial-Boulevard übelsten Zuschnitts vor Augen geführt bekommen. 718.000 Menschen kommen täglich auf Heute.at. Das wäre ja nicht der Fall, wenn das Produkt nicht entsprechend gut gemacht wäre. Der Vorsprung auf den Standard, unseren nächstgereihten Mitbewerber, beträgt hier bereits knapp 300.000 Leser. Aber natürlich kann man immer besser werden. Wir haben daher im Frühsommer umfassende Marktforschung betrieben und Verbesserungswünsche unserer Leser in das neue Heute.at eingearbeitet. Ein klareres Schriftbild und aufgeräumteres Design standen im Fokus.

medianet:
Zur Ehrenrettung von Medien wie dem Standard muss man aber auch sagen, dass diese keine Massenmedien sind und eine spitzere Zielgruppe haben. Einer Ihrer Mitbewerber, krone.at, kommt auf gut 785.000 User und ORF.at sogar auf gut 1,3 Millionen User.
Oistric: Der Standard sieht sich selbst ja gerne als Online-Pionier. Insofern finde ich es interessant, wie die offensive Positionierung als ‚Haltungsmedium' am Usermarkt aufgenommen wurde. Dass wir uns ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Krone liefern, erachte ich als echte Sensation, und man kann die Leistung unseres kleinen Teams nicht hoch genug bewerten. Wir sprechen bei der Krone von einem Mitbewerber, der seit vielen Jahrzehnten am Markt positioniert ist, auf neun Bundesländer-Redaktionen und Hunderte Redakteure zurückgreifen kann. Wir sind hingegen sehr schlank aufgestellt, beziehen nicht einmal den APA-Basisdienst.

medianet:
ORF.at haben sie jetzt aber elegant übergangen.
Oistric: ORF.at ist in der Tat ein Problem, bei dem sich enorme Versäumnisse der heimischen Medienpolitik manifestieren. Die Regierung verzerrt den Markt immer weiter in Richtung öffentlich-rechtlichem Sender. Denn einerseits wird er bereits von den Gebührenzahlern üppig finanziert, darüber hinaus inserieren aber auch öffentliche Stellen nirgendwo mehr als beim ORF. Damit kann er die größte Redaktionsleistung des Landes erbringen und darf dann zu allem Überfluss seine auf diese Weise generierte Rekord-Reichweite auch noch am privaten Werbemarkt vermarkten. Das gibt es weder in der Schweiz noch in Deutschland, und wird für einige unserer Mitbewerber existenzbedrohend werden …

medianet:
… was der ORF mit diesen Gebühren tun darf, ist gesetzlich im sogenannten Öffentlich-rechtlichen Auftrag festgeschrieben, ORF.at wurde eingeschränkt, und ist das Duale System nicht auch als wichtiger Ausgleich für unsere Demokratie notwendig, denn gerade Dinge wie Nachrichten sind teuer in der Produktion und diese werden Facebook und Co. kaum produzieren, sondern höchstens von den News-Portalen absaugen.
Oistric: Ich sehe ehrlich gesagt keinen Ausgleich zwischen ORF und Privaten und auch keinen politischen Willen mehr dazu. Die vermeintlichen Einschränkungen für ORF.at, die sich die Medienministerin gerne auf die Fahnen heftet, sind lachhaft. In Wahrheit bekommt der ORF noch mehr Möglichkeiten am Zukunftsmarkt schlechthin, bei Bewegtbild-Content, wo die Werbe-TKPs doppelt so hoch sind. Ich prognostiziere Ihnen heute: ORF.at wird keine Reichweite und keinen Werbe-Euro verlieren. Ich verstehe, dass der hohe Wert eines unabhängigen, öffentlich-rechtlichen Senders argumentiert wird. Aber weder ist die ORF-Führungsetage politisch unabhängig, noch kann ich nachvollziehen, warum man ihn nicht werbefrei stellen kann, wenn die Öffentlichkeit ihn eh schon bezahlt hat.

medianet:
Reichweiten sind ein gutes Stichwort. Nimmt man so einen großen Player vom Werbemarkt – etwa durch das Abdrehen von ORF.at, ist doch zu befürchten, dass noch mehr österreichisches Werbegeld zu den Techgiganten mit den für die Werbewirtschaft notwendigen Reichweiten abfließt …
Oistric: Ich kenne das Argument, dass dann angeblich alle Werbegelder zu den Techgiganten abfließen sollen, teile es aber nicht. Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass beispielsweise Supermarktketten, wenn sie einen Werbeträger mit 70 Prozent Reichweite nicht mehr buchen können, nicht vielleicht doch die nächstgereihten Websites mit 50 Prozent Reichweite buchen würden? Das ist doch alles Augenauswischerei.

medianet:
Dann sprechen wir über diese Alternativen. Sie haben auf heute.at Slideshows, Video-Content und die Leser-Interaktion mehr in den Vordergrund geholt. Welche Gründe sprachen dafür?
Oistric: Wir sind stolz auf die enge Verbindung zu unseren Lesern und kennen daher ihre Interessen und Ansprüche an uns sehr genau. Unsere Community ist für uns ein zentraler Wert, und es ist keine leere Phrase, dass wir dann zuhören, wenn niemand mehr zuhört. Ich könnte Ihnen jetzt viele Beispiele aus den letzten Monaten aufzählen, wo wir für Leserinnen und Leser, die sich an uns gewandt haben, Positives bewirken konnten. Fakt ist darüber hinaus, dass die Welt immer bunter, immer multimedialer wird und daher war es für uns klar, dass wir Slideshows und Videoclips forcieren.

medianet:
Aber gerade in diesen Communities und Foren lassen viele User ihrer oftmals sehr kontroversiellen Meinung freien Lauf. Wie monitoren Sie diesen Bereich und welche Maßnahmen setzten Sie, um Hatespeech & Co. keine Plattform zu bieten?
Oistric: In der Tat bekommen wir in unserem Leserforum öfter die Rückmeldung, dass wir zu restriktiv eingreifen. Es ist ein schmaler Grat zwischen freier Meinungsäußerung und unserem Bestreben, dass Heute.at ein positiver Ort für alle sein soll. Wir setzen beim Monitoring derzeit auf ein Mischsystem von Kommentar-Freischaltern bei High-Risk-Artikeln und Künstlicher Intelligenz. Für dieses Pilotprojekt haben wir eine Taskforce gegründet, es steckt aber noch in den Kinderschuhen.

medianet:
Kommen wir noch zu Ihrer neuen Funktion als Print-Chefredakteur – welche Umstellung bedeutet die neue gemeinsame Führung für die Print- bzw. Online-Redaktion? Wie wird hier künftig gearbeitet? Ausschließlich Online first und welche Rolle spielt Social Media?
Oistric: Wir denken nur noch in Geschichten, nicht mehr in Erscheinungskanälen. Jede Heute-Story entsteht künftig zuerst digital. Print entsteht aus online, nicht umgekehrt. Ein schlankes Team gestaltet jeden Nachmittag eine kompakte Tageszeitung aus den recherchierten Inhalten. Der Großteil der Redakteurinnen und Redakteure kommt somit mit der Print-Produktion nicht mehr in Berührung. Social Media hat einen großen Stellenwert, da wir hier eine jüngere Zielgruppe abholen. Auf TikTok etwa wurden unsere Videos mittlerweile 4,4 Millionen Mal geliked. Unseren WhatsApp-Kanal haben innerhalb nicht einmal eines Monats 15.000 Menschen abonniert.

medianet: Braucht es da irgendwann überhaupt noch ein Print-Produkt?
Oistric: Heute ist die zweitmeistgelesene Tageszeitung Österreichs und erreicht laut neuester Media-Analyse täglich 666.000 Menschen. Sie sehen also: Heute-Print hat nach wie vor eine große Relevanz bei den Österreichern, das wird auch noch lange Zeit so bleiben. Dennoch können wir nicht die Augen vor der Realität verschließen und müssen immer offen gegenüber neuen Erzählformen sein. Es geht am Ende nicht nur darum, Papier mit Lkws quer durch Österreich zu transportieren, sondern gut gemachte Nachrichten – auf allen Erscheinungskanälen. Wir unternehmen große Anstrengungen, um für die digitale Zukunft optimal gerüstet zu sein, weil man bekanntlich auf zwei Beinen besser steht als auf einem.

medianet: Sie sind wie bereits erwähnt seit Kurzem neben Heute.at auch Print-Chefredakteur. Auf Heute.at gibt einen eigenen Button für das ePaper auf der Website, aber Sie verzichten darauf, etwa von einem Online-Artikel, der auch in Print war, auf der Website auf das ePaper umzuleiten. Ihr Mitbewerber ­Österreich macht das ja und treibt so diverse ÖAK-relevante Zahlen nach oben. Warum haben Sie sich dagegen entschieden?
Oistric: Ich beschäftige mich nicht mit Maßnahmen von Mitbewerbern, die versuchen, ihren Kopf über Wasser zu halten. Für Heute kann ich sagen, dass wir große Anstrengungen unternehmen, um digital weiter mit großer Geschwindigkeit zu wachsen. Wir gestalten unsere Produkte immer so, dass sie für den User Mehrwerte bieten. Sollte es bei einer Geschichte sinnvoll sein, direkt auf das ePaper zu verlinken, ist es für uns eine Option. Wir werden aber keinen Content, der sich besser und umfassender digital erzählen lässt, aus reinem Selbstzweck aufdoppeln.

medianet: Und woran wird man hier die Handschrift des neuen Chefredakteurs sehen?
Oistric: Die Tageszeitung befindet sich im 20. Jahr ihres Erscheinens und ist hervorragend positioniert. Wir sind klarer Marktführer im Gratistageszeitungssegment. An der Tonalität der Zeitung wird sich nichts ändern. Wir schreiben weiterhin Geschichten, die sonst niemand schreibt.

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