••• Von Alexandra Binder
Ein Teenager in der EU der 2080er möchten Sie nicht sein. Denn für die wird die Welt alt aussehen. Sie werden von einem Drittel (28,7%) von über 65-Jährigen umgeben sein, und jeder achte, der ihnen begegnet, hat sogar bereits die 80 hinter sich gelassen. Das ist die zu erwartende Realität, auf die uns Europas Demografen aktuell im Dauerbeschuss aufmerksam machen. Dass sie damit recht haben, liegt auf der Hand. Denn Fakt ist: Sofern nicht unerwarteterweise ein Geburtenboom einsetzt, nimmt in zuwanderungsschwachen Ländern die Zahl der Pensionisten im Vergleich zu den Lohnempfängern zu. Die sozialen Systeme könnten früher als uns lieb ist kollabieren, mit ihnen die Staatshaushalte, der Lebensstandard und die Wirtschaft.
Allerdings könnte auch alles ganz anders kommen. Denn es gibt eine Disziplin, die ein viel weniger düsteres Szenario prophezeit: die interdisziplinäre Forschung; sie zeigt, dass weitverbreitete Vorstellungen über das Altern mit den Daten nicht übereinstimmen, stellt die Vorstellung infrage, dass alternde Gesellschaften verarmen, ältere Arbeitnehmer weniger produktiv sind, der Ruhestand stets ein Segen ist, die Beschäftigung älterer Mitarbeiter der Grund für die Jugendarbeitslosigkeit ist oder Alt und Jung bei Wahlen gegen die Interessen der jeweils anderen stimmen. Und sie zeichnet ein ganz anderes Zukunftsbild, das es auch geben könnte – eines, mit dem wir ganz gut werden leben können. Eines, das sich darauf stützt, dass es auch in knapp 35 Jahren noch mehr Menschen unter 50 geben wird als über fünfzig; eines, in dem Axel Börsch-Supan, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München, sagt: „Vor dem Hintergrund ist Rentenpolitik sekundär.”
„Veraltete Annahmen”
Es sind veraltete Annahmen, auf die sich der grassierende Pessimismus in den Diskussionen um die Staatshaushalte und die Sorge um unseren künftigen Lebensstandard gründet: Mit provokanten Ansagen wie diesen lässt Börsch-Supan aufhorchen, der mit seinem Team Mythen widerlegen und helfen will, geeignete Maßnahmen für eine Anpassung an die sich verändernde Situation zu finden. Sich wie die Ökonomen nur mit den Nachteilen beschäftigen, kommt für ihn nicht infrage. Was er meint, wird am erwähnten Beispiel Lebensstandard klar. Nimmt der Anteil der arbeitenden Bevölkerung eines Landes ab, sinkt auch das Arbeitskräfteangebot. Im Verhältnis werden dann weniger Produkte hergestellt, weil mehr ältere Leute versorgt werden müssen. Darauf folgt ein Sinken des Lebensstandards. So sehen das die Ökonomen. Börsch-Supan sagt: „So überzeugend dieses Szenario auch klingen mag, es unterschätzt die Fähigkeit von Gesellschaften, sich dieser Herausforderung zu stellen. Derzeit treten viele Menschen in den Ruhestand, ohne dass sie es wollten oder müssten.” Die höhere Lebenserwartung und die sinkende Kinderzahl in Europa heiße es natürlich zu kompensieren. Einige Veränderungen, die das möglich machen, seien relativ simpel: „Studenten müssen ermutigt werden, zwei Jahre früher als heute ins Arbeitsleben einzutreten, Frauen muss eine gleichberechtigte Teilnahme am Arbeitsleben ermöglicht werden, das Rentenalter muss um zwei Jahre nach oben korrigiert werden, und die Festlegung der Zahlungen aus den öffentlichen Rentenfonds muss neu definiert werden.”
Fit für die Arbeit
Eine naive Vorstellung, die die interdisziplinären Forscher da haben? Der durchschnittliche Mittsechziger ist nicht mehr leistungsfähig? Die Pension mit 67 praktisch unmöglich, weil die meisten Arbeitnehmer bereits mit 65 krank oder ausgelaugt sind? Von wegen. Die Zahlen aus dem Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE), dessen wissenschaftlicher Leiter Börsch-Supan ist, sprechen eine ganz andere Sprache. Natürlich baut der menschliche Körper ab, aber in der Realität sind heute die meisten Menschen in den fünf bis zehn Jahren nach dem üblichen Pensionsantrittsalter im Großen und Ganzen gesund. Messungen der körperlichen Belastbarkeit und Selbsteinschätzungen zeigten, dass sich unter Europas 69-Jährigen nur 7% stärker als die 60-Jährigen in ihren Aktivitäten eingeschränkt fühlten. „Man kann die Menschen nicht einfach fragen, für wie gesund sie sich selbst halten”, sagt Börsch-Supan. „Da jammern viele. Man muss es messen: Blut abnehmen und auf Stresshormone untersuchen, Blutzucker feststellen und schauen, wie viele Diabetes haben. Man muss die Studienteilnehmer laufen lassen und schauen, ob sie aus der Puste kommen.” Natürlich gebe es keinen Durchschnittsmenschen und sei ein geringerer Bildungsgrad mit einem größeren Risiko für Herzerkrankungen, Schlaganfall, Diabetes und Lungenerkrankungen verbunden. Nichtsdestrotrotz würden neueste Daten zeigen, dass der Zugewinn an Gesundheit in den Vereinigten Staaten sich verlangsamt, nicht jedoch in Europa.
Und auch der Vorstellung, dass ältere Menschen weniger produktive Arbeitnehmer sind, setzt man beim Max Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik etwas entgegen: „Jüngste Untersuchungen legen nahe, dass die Arbeitnehmerproduktivität bis zum Alter von 50 bis 55 Jahren ansteigt und dieses Niveau anschließend bis zum Alter von 65 gehalten wird.” Zusammen mit dem Unternehmen Daimler hat man eine Studie durchgeführt. Vier Jahre lang wurden in einem Lastwagenmontagewerk Arbeitsgruppen von zwölf bis sechzehn Leuten am Fließband beobachtet, eine stark standardisierte Arbeit. Börsch-Supan: „Das Fließband läuft immer mit der gleichen Geschwindigkeit. Aber hin und wieder passieren Fehler. Daran kann man die Produktivität messen. Unsere Beobachtung ist: Die Älteren machen mehr kleine Fehler, den Jüngeren jedoch unterlaufen die katastrophalen Fehler. Das Werk kommen die katastrophalen Fehler teurer zu stehen.”
Kein Generationenkrieg
Dass die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer finanzielle Vorteile für das Unternehmen hat, steht für den Wissenschaftler außer Frage. Besonders gut funktionierten gemischte Gruppen. Denn eine weitere Erkenntnis aus den Forschungen lautet: Arbeitsgruppen, die ausschließlich aus Älteren bestehen, sind in der Summe weniger produktiv als gemischte Teams. Das gilt übrigens nicht nur für die Lastwagenmontage. In einer Studie mit einem großen Versicherungsunternehmen erziele man gerade ganz ähnliche Ergebnisse. Weitere Beispiele, die für seine These der gemischten Teams sprechen hat Börsch-Supan natürlich auch auf Lager. Dieses etwa: „Die Jüngeren erzeugen mehr Patente. Aber die Umsetzung von Patenten in verkäufliche Produkte – das machen eher die Älteren. Geld verdient man mit der Kombination aus beidem.” Und weil wir gerade beim Widerlegen gängiger Annahmen sind: Es gibt auch keinen Krieg zwischen den Generationen. „Die Wahrnehmung, dass das Altern der Bevölkerung dazu führt, mag im Fernsehen beliebt sein, aber die Fakten sprechen eine andere Sprache”. Der Zusammenhalt zwischen den Generationen sei nach wie vor stark in Europa, konstatiert Börsch-Supan. Das sei eines der Ergebnisse der aktuellen Befragungswelle von SHARE. Besonders stark ist der Zusammenhalt zwischen den Generationen in Ländern mit gutem Sozialsystem, in denen die soziale Ungerechtigkeit niedrig ist.
Wenn keine Anpassung erfolgt?
Bleibt die Frage: Was passiert, wenn keine Anpassung an die neue Realität gelingt, wir die geforderten „simplen Veränderungen” nicht schaffen? Die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Menschen nicht steigern können, die Studienbedingungen nicht reformieren, um mehr Mittzwanziger ins Arbeitsleben einzugliedern, das Schulsystem sich nicht ändert und wir weiter systematisch einen regelrechten Bildungsnotstand insbesondere bei Menschen mit Migrationshintergrund kreieren? Dann, sagt der Forscher, wird es tatsächlich zu einer ökonomischen Stagnation kommen und unser Lebensstandard bis zum Jahr 2050 um ungefähr ein Sechstel sinken.
Wobei man sich in diesem Zusammenhang über eines klar sein muss: „Das Ganze ist keine Welle, die über uns schwappt und unter der man sich nur wegducken müsste, um das Problem auszustehen. Wenn man der prognostizierten Entwicklung in die Zukunft hinein folgt, schwächt sich der Abwärtstrend zwar etwas ab. Aber dann sich der Lebensstandard auf niedrigem Niveau stabilisieren. Ein plötzlicher Wiederaufschwung ist nicht zu erwarten.”