WIEN. Disruption, Industrie 4.0, Digitalisierung, Automatisierung – selten waren bei einem Thema die Glaskugeln trüber: Am einen Ende des Spektrums stehen jene, die prognostizieren, dass Massenarbeitslosigkeit und soziale Verwerfungen drohen. Am anderen Ende stehen Menschen wie Microsofts Chef-Innovator Jonathan Grudin: „Es gibt keine Knappheit an Dingen, die erledigt werden müssen.” medianet sprach darüber mit Valerie Höllinger, Geschäftsführerin des BFI Wien.
medianet: Frau Höllinger, zu welcher Interpretation tendieren Sie?
Valerie Höllinger: Aus der Vergangenheit wissen wir, dass technische Innovation nicht nur Jobs gefährdet hat, sondern in anderen Bereichen auch Jobmotor war und viele neue Jobs entstanden sind, an die man vor dieser Innovation nicht gedacht hatte. Und in diese Richtung tendiere ich. Fakt ist jedenfalls, dass fast alle Berufe durch die Digitalisierung verändert werden. Egal ob das der Lagerarbeiter, der Handelsangestellte oder etwa der Rechtsanwalt ist – von den IT-Jobs gar nicht zu sprechen. Ohne Digitalkompetenzen wird es also schwierig.
medianet: Sie waren kürzlich gemeinsam mit Ihrem Co-Geschäftsführer Franz-Josef Lackinger und einem Team des BFI Wien auf Weiterbildungsreise im Silicon Valley: Was ist die wichtigste Lektion, die Sie dort gelernt haben?
Höllinger: Dass man gemeinsam mehr erreicht als ein Einzelkämpfer; im Silicon Valley wird der Communitygedanke, also die interdisziplinäre Vernetzung von Wissen, ganz groß geschrieben. Hier wird jedem Gehör geschenkt, der eine Idee hat, egal ob er Student, Unternehmer oder Geldgeber ist. Die daraus entstehende Collaboration führt dazu, dass sich die unterschiedlichsten Marktteilnehmer frei von Hierarchien, frei von Wettbewerbsklauseln, frei von Angst, dass die Idee gestohlen wird, gegenseitig inspirieren können und gemeinsam an der Lösung von Problemen gearbeitet wird. Dadurch entsteht ein unglaubliches Innovationspotenzial.
medianet: Was unterscheidet Unternehmer im Valley in ihrem Zugang zum Business am gravierendsten von ihren Pendants hier in Österreich?
Höllinger: Sicherlich die Geisteshaltung: ‚The problem I’m solving is…' steht im Zentrum der Denke im Silicon Valley – nicht die Insignien der Macht. Und dieser unglaubliche Drang, zu inspirieren. Im Silicon Valley ist man überzeugt, dass inspirierende Unternehmen gute Leute anziehen. Und der Erfolg gibt ihnen Recht.
medianet: Inwiefern könnte man diese Mentalität hierzulande fördern? Müsste man an den ganz großen Schrauben drehen – sprich: an den wirtschaftpolitischen Rahmenbedingungen feilen? Oder ginge es auch im Kleinen – konkret: Kann man diese Tugenden lehren?
Höllinger: Ich bin überzeugt davon, dass man schon im Kleinen viel erreichen könnte. Viele Stärken im Silicon Valley sind eine Einstellungsfrage. Wenn wir mehr in Kooperation als in Wettbewerb denken, die interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern und die Kunden schon frühzeitig in den Produktentwicklungsprozess einbinden, haben wir schon einen großen Schritt in Richtung Innovation gemacht. Auch der Einsatz von Design-Thinking als Methode, um Probleme zu lösen oder neue Ideen zu gewinnen, wäre ein wichtiger Schritt. Am BFI Wien versuchen wir diese Mentalität zu fördern, verstärkt auch mit Start-ups zusammenzuarbeiten und so neue Impulse für den Bildungsmarkt zu setzen.
medianet: Und was könnte das Silicon Valley von Österreich lernen? Sicherlich gibt es auch Defizite …
Höllinger: Das größte Manko des Silicon Valley ist, dass es ein reines Elitenprogramm ist. Hier stellt sich niemand die Frage, was mit jenen passiert, die mit dem oft waghalsigen Tempo nicht mitkönnen, oder zerbricht sich den Kopf darüber, wie man die Innovativen fördert, ohne jene zu verlieren, die nicht zu den Besten der Besten zählen. In Österreich haben wir ein System, das allen Zugang zu Bildung, Gesundheitssystem und Pensionen bietet – also jeden fördert. Dieses soziale Sicherheitsnetz sorgt dafür, dass nicht nur die Elite ein gelungenes, selbstbestimmtes Leben führen kann. (sb)