Entscheidungen in Echtzeit treffen
© Photo Simonis Wien
DOSSIERS Redaktion 21.10.2022

Entscheidungen in Echtzeit treffen

Was bedeutet Digitalisierung eigentlich? Experten wie Gerald Tretter von BearingPoint kennen die Antwort.

Wie wichtig eine Reaktion auf ein Ereignis in Echtzeit sein kann, macht ein Beispiel aus der Transportlogistik deutlich. Es fährt ein Lkw von Wien nach Linz, und auf der Strecke passiert ein Unfall. In einem System, das BearingPoint für einen Kunden aufgebaut hat, wird die Meldung der daraus entstehenden Verspätung und ihre Relevanz für das Transportunternehmen und dessen Kunden automatisch analysiert. Im Anlassfall wird das Management informiert und in weiterer Folge Kunden, die wiederum rechtzeitig – in Echtzeit quasi – ihre Schlüsse ziehen und Maßnahmen ergreifen können. „Unsere Vorgehensweise, das Konzept, die Methodik und unser Verständnis fassen wir unter dem Begriff ‚Continuous Intelligence' zusammen. Das Prinzip lässt sich in vielen Branchen anwenden. Doch dafür ist ein Paradigmenwechsel nötig, wie Daten betrachtet und behandelt werden. Im Kern geht es darum, eine Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt zu treffen. Das gilt für eine Vielzahl von Vorgängen mit definierten Geschäftsregeln und geschieht innerhalb von Millisekunden”, erklärt Gerald Tretter, Senior Manager bei BearingPoint und Leiter des Center of Excellence für Event-Streaming, im Interview und meint: „Für diese individuellen Aufgabenstellungen hat BearingPoint eine methodische und konzeptionelle Herangehensweise entwickelt.” BearingPoint ist auf Management Consulting, Business Services, Software-Entwicklung und Technologie-Consulting spezialisiert und verfügt in Österreich – neben 23 internationalen Standorten – über Büros in Wien und Graz.


medianet:
Was bedeutet es, Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt in Echtzeit zu treffen?
Gerald Tretter: Ein Wort kann manchmal verwirrend sein. Echtzeit ist zwar möglich, aber Echtzeit wird von jedem Menschen unterschiedlich ausgelegt. Echtzeit ist für einen Physiker wirklich Echtzeit. Für andere sind es Millisekunden, in manchen Anwendungsbereichen sind es Minuten oder Stunden. Die Technologie, mit der wir im Hintergrund arbeiten, würde eine Verarbeitung einer großen Menge an Daten nahe der Echtzeit erlauben, also im Millisekundenbereich. Wir beschäftigen uns mit Geschäftsprozessen unserer Kunden immer im ‚Jetzt' – zu jenem Zeitpunkt, an dem ihr Geschäft tatsächlich abläuft. Im Gegensatz zu vielen datenbasierten Ansätzen der Digitalisierung stellen wir uns die Aufgabe, im Geschäftsprozess im ‚Jetzt' zu agieren und nicht durch nachgelagerte Algorithmen zu erfahren, dass etwas falsch gelaufen ist.

Welche Entscheidungen sind wann wichtig? Was wir wollen, ist, den richtigen Zeitpunkt zu finden, wann eine Entscheidung getroffen werden muss, um den größten Mehrwert für das Unternehmen zu generieren. Viele Unternehmen verfügen über Datensilos. Um eine Entscheidung zu treffen, müssen diese Daten dann wieder in andere Datensilos verschoben werden. Das passiert meist am Rande des Tages oder einer Woche. Damit arbeiten die Entscheidungsträger mit Daten, die nicht aktuell sind, also nicht im Jetzt.


medianet:
Über welche Branchen sprechen wir bei der Automatisation von Geschäftsprozessen?
Tretter: Überall gilt es, Entscheidungen zu treffen. Ist eine Maschine wartungsanfällig, ist sie defekt oder wird bald ein Defekt auftreten? Weshalb verbraucht eine Maschine mehr Material als nötig? Solche Daten werden erfasst und diese möchte der Kunde zum richtigen Zeitpunkt erhalten. Ein Servicetechniker soll eine Maschine warten, bevor sie ausfällt. Das kann einen Einfluss auf die Produktqualität haben. Deshalb benötigt man diese Daten zum richtigen Zeitpunkt. Manche Unternehmen sind bei der Digitalisierung bereits einen Schritt weiter: Sie nutzen den richtigen Zeitpunkt bereits und treffen zu diesem gezielt eine datenbasierte Entscheidung.

medianet:
Wenn ein Unternehmen bereits über gängige ‚smarte' Maschinen verfügt, die etwa Wartungsbedarf selbstständig melden – ist das ein Fremdbaustein, den Sie verwenden können?
Tretter: Das sind wichtige Datenquellen. Das sind Daten und Informationen, die man sammeln und darüber nachdenken kann, wie man diese als Ereignisse, die wir als Events bezeichnen, verwendet. Wenn das eine Maschine selbst macht, ist das eine fortgeschrittene Maschine, und vieles von dem, was wir erreichen wollen, ist bereits vorhanden. Natürlich sehen wir uns das gesamte Unternehmen an und überlegen, welche Datenflüsse und Prozessabläufe es dort gibt. Die Maschine ist nur ein Teil des Ganzen. Wir betrachten nicht nur den Ablauf, sondern auch die Abhängigkeiten um ihn herum und nicht nur ein Einzelteil. Gestartet wird mit kleineren Anwendungsfällen. Dort spüren wir Potenziale auf. Vorhandene Daten, Informationen und Events werden dabei miteinbezogen. Da müssen wir nichts neu erfinden. Wir gehen analytisch und mit einem Workshop-Charakter vor, um diese Potenziale zu identifizieren. Danach entsteht ein Konzept, wie diese Potenziale realisiert werden.

medianet:
Sollte die Transformation nicht längst in jedem Bereich bereits im Laufen sein? Wie beraten Sie jene Unternehmen, die bei der Entwicklung hinterherhinken?
Tretter: Wir stellen den entsprechenden Reifegrad des Unternehmens fest und konzipieren ein individuelles Vorgehen auf Basis unserer Methoden, Werkzeuge und Erfahrung. Es gibt keinen falschen Zeitpunkt, an dem man in die Transformation einsteigt.

medianet:
Wie sieht Ihre Herangehensweise aus?
Tretter: Wir denken nicht mehr in statischen, sondern in bewegten Daten. Bewegte Daten sind für uns in der Folge Events, wie anfangs beschrieben z.B. die GPS-Transponderdaten eines Lkw. Wir können dabei helfen, diesen Event-Gedanken in ein Unternehmen hineinzubringen. Wir zeigen, welches Potenzial darin steckt, in Events zu denken, und bringen Vorschläge, was man damit tun kann. Führt das zu automatisierten Benachrichtigungen? Führt das zu Entscheidungen durch das System, die ich nicht mehr selbst treffen muss? Den Vorschlag zur Lösung bringen wir, das Erarbeiten des Potenzials passiert gemeinsam mit den Experten des Kunden.

medianet:
Gibt es ein gemeinsames Prinzip, das Sie bei allen Unternehmen anwenden?
Tretter: Alles vereint der Paradigmenwechsel. Von statischen Daten hin zu bewegten Daten und dass wir die Unternehmen dazu motivieren, Event-getrieben zu denken und den Event-Gedanken zu leben. Ein Beispiel aus der Logistik: Zwischen der Abholung einer Ware bis zur Ankunft beim Empfänger passieren Dinge. Es gibt irgendwo einen Unfall, schlechtes Wetter oder das Umladen auf einen Eisenbahnwaggon. Das sind alles Events, mit denen man arbeiten kann. Ähnlich ist es, wenn ein Bankkunde einen Kredit abschließt. Es wird die Kreditwürdigkeit überprüft und es wird ein Konto angelegt. Das sind alles Ereignisse. Es ist essenziell, zu erkennen, dass ein Geschäftsprozess aus vielen Einzelereignissen besteht und man diese verbinden muss. Das stellen wir in einem Ablauf dar. Für uns ist ein Datensatz an sich nicht unmittelbar selbst relevant, sondern das Ereignis, das zum Entstehen eines Datensatzes führt. Der Moment, wann etwas entsteht und dieser genutzt wird, ist relevant. Der entstandene Datensatz wird erst in weiterer Folge betrachtet.

medianet:
Ist es ein Paradigmenwechsel, das Entstehen von Daten zu betrachten?
Tretter: Viele Unternehmen sind so aufgebaut, dass sie im Laufe eines Zeitraums Daten sammeln, sie in ein Data-Warehouse stellen und rückwirkend analysieren, was zuvor passiert ist. Aber ist es nicht zu spät, erst im Nachhinein zu wissen, was passiert ist? Ist es nicht richtiger, in jenem Moment der Entscheidung zu wissen, was passieren soll? Daten werden somit zum Auslöser weiterer Events – das ist ein Paradigmenwechsel im Umgang mit Daten. Das ist der erste Schritt. Die Analytik selbst ist sehr wichtig. Sie ist das Gehirn eines Unternehmens, und wir verwenden diese Intelligenz zum richtigen Zeitpunkt.

medianet:
Ist es schwer, nicht besonders digital-affine CEOs zu einer nötigen Transformation zu bewegen?
Tretter: Wir sprechen dann nicht über Technologie oder über Software, sondern über die Potenziale des Unternehmens. Wo möchte das Unternehmen hin? Soll es wachsen oder müssen gewisse Kosten eingespart werden? Gibt es Konkurrenzdruck, mangelt es an Effizienz? Das müssen wir erkennen und können dann einen datengetriebenen Ansatz unterstützen. Es ist aber niemals alleinig der datengetriebene Ansatz. Was wir mitbringen, ist ein Wechsel, eine Veränderung, bei der wir die Mitarbeiter eines Unternehmens mitnehmen. Sie sind maßgeblich am Erfolg eines Unternehmens beteiligt. Ihre Rolle wird sich allerdings verändern, wenn ein derartiger Paradigmenwechsel durchgeführt wird. Wo bisher alles in Datenbanken landete, wird jetzt der gesamte Geschäftsprozess als Event-Stream abgebildet. Das verändert die Arbeitsweise und die Rolle der Mitarbeiter. Entscheidungen, die zuvor Mitarbeiter gefällt haben, werden jetzt von dem System getroffen. Daten müssen nicht mehr erfasst werden, sondern werden automatisch aufgenommen. Das alles verändert die Kultur eines Unternehmens, die Prozesse und wie Entscheidungen getroffen werden. Insofern ist eine solche Veränderung keine technische, sondern hilft dabei, Unternehmensziele zu erreichen.

medianet:
Wie nehmen Sie ­Ihren Kunden eine etwaige Angst vor der Digitalisierung?
Tretter: Wir haben ein Enablement-Programm, damit sich Mitarbeiter in der Event-getriebene Welt zurechtfinden und auch so denken. Das ist nicht immer einfach. Es gibt positive Aha-Effekte, wenn erkannt wird, welche Möglichkeiten sich ergeben.

medianet:
Wie sieht das ­BearingPoint-Team aus?
Tretter: Wir haben ein Kernteam in Wien, das Center of Excellence für Event-Streaming. Wir sind im Jahr 2016 gestartet und haben unsere heutigen Beratungsangebote immer weiterentwickelt und verfeinert. Wir haben das Potenzial erkannt, wie zukünftig Geschäftsprozesse IT-unterstützt ablaufen werden. Neben dem technischen Kompetenzzentrum ist ein fachlich orientiertes Zentrum entstanden, in dem wir Methoden entwickeln. Wir haben eine internationale Community aufgebaut, die weit über den D-A-CH-Raum hinausgeht. Es gibt auch Kollegen, die die Fachprozesse bei unseren Kunden, etwa bei Versicherungen, in der Energiewirtschaft, in der Transportwirtschaft oder bei Banken, kennen. Sie alle nehmen wir auf unsere Reise mit. Wir sind mit BearingPoint in ganz Europa vertreten und vernetzt und verfügen über Experten in beinahe allen Bereichen.

medianet:
Welche Rolle spielt KI bei BearingPoint?
Tretter: Wir nennen es Continuous Intelligence, wenn wir Geschäftsprozesse analysieren und verändern wollen. Es spielen Modelle, die anhand von Data-Analytics entstehen, eine Rolle. Wir setzen diese Analytik innerhalb eines ‚im Jetzt' ablaufenden Geschäftsprozesses ein. Diese Art und Weise des Einsatzes von Technologie bezeichnen wir als Künstliche Intelligenz.

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