Zerstörung und des Kaisers neue Kleider
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FINANCENET Redaktion 31.05.2019

Zerstörung und des Kaisers neue Kleider

Auf der Coface Country Risk Conference wurde erörtert, ob Disruption der Heilsbringer für die Wirtschaft ist.

••• Von Helga Krémer

Die guten Nachrichten zuerst: In Europa wird nach wie vor investiert, die US-Wirtschaft boomt immer noch. „Auch dank der von Donald Trump eingeführten Steuersenkungen und trotz der mit dem Welthandel verbundenen Unsicherheiten eines Anstiegs der Zinssätze und des US-Dollars. In den Vereinigten Staaten stehen wir heute kurz vor der Vollbeschäftigung”, erklärt Declan Daly, CEO Coface Zentral- und Osteuropa, im Rahmen der 17. Coface Country Risk Conference (CCRC). China gehe es nach wie vor gut, wenngleich sich die Konjunktur verlangsame. „China trug 2018 rund 30 Prozent zum weltweiten Wachstum bei, was beeindruckend ist. Und auch die Emerging Markets entwickeln sich weiter”, so Daly.

Doch ohne Licht kein Schatten – und der zeige sich, global betrachtet, in vier großen Risikofaktoren: der politischen Situation, dem Aufkommen des Protektionismus, den Auswirkungen der Technologie und der globalen Verschuldung.

Herausforderungen

Nach einer Analyse des IIF, Institute of International Finance, stiegen die weltweiten Schulden bis Ende März 2019 auf den Rekordwert von 247 Bio. US-Dollar. (Deutsche Billionen, Anm., eine Billion entspricht 1.000 Milliarden und hat somit zwölf Nullen.) Zum Vergleich: 2003 lag die globale Verschuldung noch bei etwas unter 100, 2008 bei 178 und 2013 bei 209 Bio. US-Dollar.

Den Bereich CEE betrachtend, nennt Daly die Verlangsamung der Wirtschaft in der Eurozone, die Herausforderungen an Unternehmen – wie etwa Facharbeitermangel sowie Entlohnung, den Brexit und – wirklich ganz ohne Seitenhieb auf Österreich – die politischen Situationen als Risikokomponenten. Außerdem unterstreicht Daly die Rolle der Agilität für den nachhaltigen Unternehmenserfolg: „Wendigkeit, Beweglichkeit, Geschicklichkeit oder Gewandtheit werden immer wichtiger.”
Faktoren, die sich, scheint es, immer mehr Unternehmen auf ihre Fahnen heften sollten. „Die Zahl der Insolvenzen nimmt deutlich zu”, betont Grzegorz Sielewicz, Coface-Ökonom für Zentral- und Osteuropa. Der Experte sieht eine Umkehr bei den Unternehmenspleiten in der Eurozone: 2018 noch im grünen Bereich, rechnet Sielewicz nun mit einem Anstieg der Insolvenzen um 3%. Deutschland zeigt ein ähnliches und Italien ein schlimmeres Bild – im Vorjahr noch gut unterwegs, heuer um 2% resp. um 7% mehr Insolvenzen. „Wir sehen 2019 wesentlich mehr Risiken als noch in den Jahren 2017 und 2018”, erklärt der Coface-CEE-Experte und warnt vor dem Protektionismus und dem Schwächeln der dominierenden Ökonomien in den USA, der Eurozone und China. Dies betreffe auch Österreich, denn die österreichische Wirtschaft sei dank der Inlandsnachfrage zwar gestärkt, aber durch ihren hohen Exportanteil ebenso von den globalen Entwicklungen betroffen. Sollten wir uns nun auf eine Rezession in der Eurozone vorbereiten? Nicht unbedingt.

Disruption als Heilsbringer

Was also tun? Haben wir schon Feuer am Dach? „Traditionelle Modelle kommen an ihre Grenzen, die Digitalisierung schreitet voran, und die Disruption ist allgegenwärtig. Was sind die großen Herausforderungen, Risiken und Chancen für Österreich und unsere Unternehmen”, stellt Michael Tawrowsky, Country Manager von Coface Österreich, das Thema „Disruption” in den Mittelpunkt der CCRC-Diskussion – und dazu die Macht der Disruption infrage: „Wenn wir so viele angeblich disruptive Veränderungen haben, die einen starken Einfluss auf die Wirtschaft haben, warum stehen wir dann vor einer Rezession?”

Christina Wilfinger, Top-Managerin bei Microsoft in Österreich, sieht das Positive in der Entwicklung hervor: „Disruption wird oft als etwas Negatives betrachtet. Durch disruptive Prozesse kann Neues entstehen.” Thomas Primus, Gründer von FoodNotify, bezeichnet Disruption als „natürlichen Prozess”. „Es werden die bestehenden, alten Systeme erneuert. Der Versuch, dagegen anzukämpfen, ist meiner Meinung nach aussichtslos und kostet nichts als Energie”, so Primus. Franz Schellhorn, Leiter des Think Tanks Agenda Austria, unterstreicht, dass Lebens- und Produktzyklen immer kürzer werden. „Die Garantie ist nicht da, dass ein neues Produkt in zehn Jahren noch relevant ist”, sagt Schellhorn und erinnert an den Aufstieg und Fall von Nokia.
Börsenexperte Dirk Müller prophezeit die größte Wirtschaftskrise aller Zeiten. Besonders kritisch: „China ist die größte Blase, die die Weltwirtschaft je gesehen hat.” Die geplante neue Seidenstraße sei ein „einmaliges Infrastrukturprojekt”. Den Handelskrieg zwischen den Mächten USA und China sieht Müller als das Hauptthema für die Weltwirtschaft. Und Europa? „Viel zu passiv. Europa guckt und guckt und schaut, was passiert”, kritisiert Müller.

Philosophie zum Ausklang

Kritik gibt es auch vom norwegischen Wirtschaftsphilosophen Anders Indset, der sich mit der Zeit nach der Digitalisierung auseinandersetzt: „Wir haben heute mehr Experten und weniger Antworten”, betont Indset, darauf aufmerksam machend, dass uns „ein gemeinsames Ziel fehlt” und wir in Parallelgesellschaften leben. „Noch nie war der Abstand zwischen den Generationen größer als heute”, so der Philosoph. Die heute 20-Jährigen seien projektorientiert. „Die Zukunft besteht nur noch aus Projekten. Projekte sind die neuen Chefs.” Indset fordert, mutig neue Fragen zu stellen, denn „wir brauchen ein ‚Why' im Leben”.

Zurück in die Jetztzeit, zurück zur Disruption. „Ist Disruption gar nur ein ‚Buzzword'? Alles und jeder ist heute disruptiv”, philosophiert Tawrowsky und zieht folgendes Fazit: „Die aktuelle Entwicklung der Wirtschaft zeigt, dass die viel zitierte Disruption nicht so mächtig ist wie sie tut; sie ist nichts anderes als eine Evolution, keine Revolution. Wenn sie mehr wäre, dann hätte sie einen nennenswerten, anhaltenden und nachhaltigen Effekt auf die Gesamtwirtschaft. Den hat sie – leider – nicht.”

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