Spätestens seit der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels kommt an der dystopischen Zukunftsversion, die der konvertierte Digital Supernative Jaron Lanier in „Wem gehört die Zukunft?” zeichnet, keiner mehr vorbei. Die Botschaft ist bekannt: den Menschen geht die Arbeit aus (Jeremy Rifkin: The end of work, 1993) – allerdings sind die Argumente neu.
Lanier beobachtet schon lange, wie durch die Digitalisierung Branche um Branche mit fest zugekniffenen Augen in ihren Untergang marschiert – allen voran die Musikindustrie, gefolgt vom Journalismus, der gerade in Europa den Warnschuss immer noch nicht gehört hat. Nun ist das Papierbuch fällig und im Gefolge auch alle seit Gutenberg anhängigen Gewerke wie Druckereien, Buchhandlungen, Papierhersteller, Lieferanten, etc. Der Sektor wird ersetzt durch jede Menge Jobs für einen Haufen Programmierer im Silicon Valley. Der Ausgangspunkt und Systemfehler besteht für Lanier darin, dass Internetuser einer Gratismentalität im Internet frönen. Für den einzelnen erscheine diese zunächst güns-tig: zum Beispiel in Form von Filesharing für Musik und Film, freier Bildung (Wikipedia, Online Tutorials) und Unterhaltung per Social oder Gaming Software. Doch auf den zweiten Blick: Zuerst werde der Produzent (Musiker, Universitäten, Vereine) enteignet und werde der genossene Mehrwert seiner Konsumenten durch die Vernichtung von Arbeitsplätzen hundertfach entwertet. Der allzu menschliche Makel, der dieser Logik zugrunde läge, bestünde dabei darin, dass der individuelle Mensch egozentrisch verbrämt meine, er sei der Kunde der Internetkonzerne. Tatsächlich sind wir aus der Perspektive des Informatikers Lanier aber nur ihr Produkt – und zwar das ihrer Algorithmen und Superserver.
Der Beutezug der Sirenen
Das Buch beschwört fast zwangsläufige Erinnerungen an Goethes „Zauberlehrling”. Seite um Seite nimmt die Ahnung Gestalt an, dass die Zauberlehrlinge Geister gerufen haben, die schon lange nicht mehr ihrem Willen gehorchen. Aber wessen Willen? Das ist die Frage, über die jetzt gesprochen werden muss. Um zu gestalten, wem die Zukunft gehört. Auf 473 Seiten versucht Lanier mit Leidenschaft und Eindringlichkeit, dem geneigten Laien das Unwesen dieser „Sirenenserver” zu erklären. In Anlehnung an die Verlockungen der Sirenen in der griechischen Mythologie, die die Seefahrer in das Unglück schippern ließen, nennt er so die Megaserver von Amazon, Facebook, Google und Co.
Die Verlockung der Sirenenserver liegt darin, dass Internetriesen ihre Services zwar „umsonst” anbieten, User sie aber am Ende doch teuer bezahlen. Es versetze die Internetkonzerne durch ihren schieren Hardwarevorteil in die Lage, in ungekanntem Ausmaß User-Daten zu sammeln und mit diesen Daten Geld zu verdienen. Wir, die Menschen, bekämen dafür vermeintlich günstigere Urlaubsreisen, „kauften auch”-Empfehlungen, virtuelle Freundeskreise und manchmal sogar für kleines Geld einen neuen Partner. Dies alles ändere jedoch nichts daran, dass das große Geld woanders und ohne uns verdient wird. Der schnelle Vorteil demaskiere sich langfristig als Nachteil, als Bedrohung für große Teile der Berufstätigen, und, nach Lanier, schließlich als Untergang der Mittelschicht, deren Wertschöpfung ebenfalls wegrationalisiert würde.
Künstliche Intelligenz
Die Ursache hierfür läge in der Macht der Algorithmen, die eine unendliche Vielfalt von Pfaden und Sortiervorgängen vornähmen, Korrelationen in Verhaltensfragmenten von Usern aufspürten – und mithin ein System von künstlicher Intelligenz darstellten, eine die unter uns weilt. Hier werden Zusammenhänge quantifiziert, die dem menschlichen Auge und Geist verborgen bleiben und dank der Zahlengläubigkeit der Marktwirtschaft unser System beherrschen. Der größte und beste Server gewinne, was Lanier zufolge unweigerlich zu monopolartigen „Starsystemen” führe. Die Regel in einem Starsystem lautet, dass die „Besten extrem belohnt, während fast alle anderen – und das ist eine stets wachsende Anzahl von Konkurrenten – in die Armut gedrängt werden”. Die rasende Konzentration der Internetkonzerne, die das Starsystem nur noch weiter befeuert, könne man an den ständigen Auf- und Zukäufen beobachten – nachzulesen in den wenigen noch verbleibenden Zeitungen.
Digitale Automatisierung
Zwar schaffe diese Konzentration neue Arbeitsplätze, aber zahlenmäßig fingen sie nicht auf, was sie zersetzten. Die von Lanier oft genutzte Gegenüberstellung von industriellen und digitalen Arbeitsplätzen – General Motors vs. Instagram – sind zwar bekannt, aber das macht sie nicht weniger eindrücklich.
Das Unbehagen gegenüber dem amerikanischen Versicherungs-wesen, das nun deshalb nicht mehr Geld verdiene, weil es möglichst viele, sondern nur die per Algorithmus richtigen Personen versichere, ist gut benannt.
Aber besonders bedrückend und von stechender Klarheit malt Lanier aus, welche Delle wohl Chinas Wirtschaftswachstum erfahren wird, wenn wir aufgrund der (super-)exponentiell wachsenden Prozessorleistung zukünftig Handys als Designs zu Hause herunterladen und uns dann per 3D-Drucker ausdrucken. Die chinesische Regierung werde zunächst versuchen, diese Programme zu blockieren, daran aber scheitern und zuletzt als globaler Mobiltelefon-Lieferant völlig aus dem Spiel sein.
Die manuelle Arbeit tot und die Folgen für die Bevölkerung desaströs. Was geschieht mit Taxi- und Fernfahrern und uns selbst, wenn die Silicon Valley-Träume von Sirenenserver-gesteuerten Autos und Drohnen uns und alle Waren unfall- und staufrei zu ihren Bestimmungsorten bringen? Laniers These, in Goethes Bild gegossen: Die Geister, die wir riefen, hören nicht auf, das Wasser zu schleppen, und es steht uns dann plötzlich bis zum Hals ...
Humane Digitalisierung
Wie kann sich die Mittelschicht retten? Lanier dreht den Spieß um, stellt sozusagen wie vormals Marx den Hegel die Sirenenserver-Logik vom Kopf auf die Füße. Internetkonzerne sollten Menschen dafür bezahlen, dass sie ihre Daten nutzen. Analog zu dem anschaulichen und von ihm mitbearbeiteten Siegeszug von Walmart können Unternehmen diese Daten dann kontinuierlich zur Produktleistung und -empfehlung, aber auch zur Supply Chain-Optimierung nutzen. So wird aus jedem unserer digitalen Akte bares Geld für uns und wir können nach Herzen klicken und liken, was Maus und Tastatur hergeben – eine Win-Win-Situation. Das, was hier als humane Alternative beschrieben wird, ist das konsequente Zuendedenken einer Welt, in der alles automatisiert produziert wird. Die Menschen konsumieren hier nur noch und werden dafür bezahlt, dass sie das tun. Selbst die Altenpflege übernehmen Bettpfannenroboter. Ob das der europäischen Auffassung von Humanismus genügt, kann jeder selbst beantworten.
Belegfrei Marke Eigenbau
Beim Lesen des Buches fällt seine extrem eklektizistische Zusammendrängung von Inselwissensgebieten auf. Ein Argument, das überzeugen könnte, entpuppt sich schnell als Pappkamerad, wenn es keine weiteren Belege gibt. Lanier belegt sich am liebsten mit Lanier. Die Rezeption des Buches könnte entsprechend radikal zweigeteilter nicht sein: Die gängigen Feuilletons applaudieren gehorsam dem uns meilenweit in Denken und Erahnen vorausseiendem Amerikaner.
Nachdenklicher klingt man im Schauplatz der Hyperintellektuellen, dem merkur-blog. Florian Cramer demontiert Laniers Glaubwürdigkeit und stellt ihn als einen dar, der alles sei, nur kein Internetpionier, der den Begriff der „virtuellen Realität” bestenfalls geklaut und aufgeblasen habe, und weist schließlich zu Recht auf die Ironie bei der Verleihung des Buchpreises hin, dass gerade Lanier ein Computerenwickler sei, der „Zeit seines Lebens versucht hat, Computer und digitale Medien von der Dominanz der geschriebenen Sprache zu befreien”. Nun gut, einer der „wichtigsten Konstrukteure der digitalen Welt” ist Lanier wohl nicht, wie es in der schriftlichen Begründung des Preises heißt. Und in der Tat drängt sich der Eindruck auf, dass dieser Preis nur in Europa und auch nur in dem digital rückständigen Deutschland verliehen werden konnte, wofür Lanier aber ja nichts kann. Solche Szenarien rezipieren hierzulande mit wohligem Schauer bei Tee und Keks technologiefeindliche Bildungsbürger ohne Facebook- und Twitter-Account in den Tiefen ihrer Ohrensessel.
Retter der digitalen Zukunft
Doch insgesamt lässt sich sagen, dass dieses Buch gerade aufgrund seiner Unzulänglichkeiten, der Phantastereien, der Halb- und manchmal eben doch Ganzwahrheiten niemanden kalt lassen dürfte. Die Erkenntnis, dass der Einzelne Google und Co nichts schuldet, sondern im Gegenteil, jene etwas ihren Nutzern, ist eine Überlegung wert. Eine praktikable Antwort auf die Lösung der Probleme der neuen Welt gibt das Buch nicht, aber es stellt durchaus die richtigen Fragen aus dem Blickwinkel eines eher besessenen denn selbstverliebten Praktikers mit einer Mission – der Rettung der digitalen Zukunft und Erschaffung einer humanistischen Informationsökonomie. Das allein schon macht das Buch und auch den Autor durchaus sympathisch.
Er behauptet an keiner Stelle, etwas anderes zu sein, als ein Nerd unter Nerds, der versucht, für uns ein Türchen in die Köpfe der Architekten der Zukunft zu öffnen. Kein Hexenmeister, aber einer, der die Gefahr von algorithmisierter Macht in wenigen falschen Händen erkennt und uns mitteilt. Keiner kann mehr sagen, man hätte es nicht wissen können.
Weitere Denkanstöße dieser Art finden Sie im Sturm und Drang-Studienmagazin aus der kommenden Konsumkultur: Digest.
http://sturmunddrang.de/digest/