Advicum Retail Report: Modehandel im Wandel
© AFP/Charly Triballeau
RETAIL Redaktion 06.09.2019

Advicum Retail Report: Modehandel im Wandel

3D-Druck, VR-Brillen und Zustellung via Drohnen: Schuh- und Modehandel erleben stürmische Zeiten.

••• Von Paul Hafner

Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit – oder, wie es Advicum-Geschäftsführer Daniel Knuchel formuliert: „Nicht die Großen werden die Kleinen fressen, sondern die Schnellen die Langsamen.”

Der drohende Bedeutungsverlust auch größerer Einzelhändler ist nur eine von vielen Prognosen, die das Wiener Beratungsunternehmen Advicum fortschrittsskeptischen Händlern im Rahmen ihres „Retail Reports” in Aussicht stellt.

Der hybride Kunde

Zwar bedeute das Bevölkerungswachstum in Österreich einen grundsätzlich größeren Absatzmarkt, doch hybridisiere sich das Konsumverhalten zunehmend; Marken- und Händlertreue gelten als verschwindendes Phänomen, der moderne Konsument neige zu wechselhaften Kaufentscheidungen. Zudem würden Kunden preissensibler, Sharing Economy – ob aus Sparsamkeit oder Nachhaltigkeit –sei ein langfristiger Trend.

Bei allen Herausforderungen steht die Branche grundsätzlich nicht schlecht da: Die Umsätze des Modesektors sollen in den nächsten Jahren mit einer durchschnittlichen Rate von 1,7%, jene des Schuhsektors um 1,3% wachsen. Der Pro-Kopf-Umsatz in Österreich liegt bei Mode aktuell bei über 1.000 €; für Schuhe werden ca. 250 € ausgegeben.
Bereits 17% (Mode) bzw. 20% (Schuhe) werden online gekauft; der Anteil soll sich in den nächsten Jahren jeweils um ein paar Prozentpunkte erhöhen.

Handel im Wandel

Die Studienautoren Andreas Kornberger und Florian Bernhard sehen die veränderten Kundenbedürfnisse als Aspekte einer Handelsrevolution, in deren Zentrum die Geschäftsmodelle stehen. Kauft der Kunde derzeit auf verschiedenen Kanälen (Multi-Channel), gehe der Trend in den nächsten Jahren Richtung „vollständiger Integration und Vernetzung aller Kanäle und Touchpoints”, so Kornberger. „Der Omnichannel-Handel ist die konsequente Fortentwicklung des Einzelhandels.”

Drohnen, Roboter und AR

Eine branchenspezifische Kehrseite des Fortschreitens von E-Commerce betrifft die hohen Retourenquoten von bis zu 60%.

„Neue Technologien werden auch Vertrieb und Logistik im Mode- und Schuhhandel massiv verändern”, prognostiziert Bernhard – und meint die Zustellung via Drohnen und Endkundenbelieferung durch selbstfahrende Roboter.
Was heute noch unrealistisch erscheint, könne schon in ein paar Jahren Realität sein: „Denken Sie an die Entmaterialisierung des Bankgeschäfts”, wirft Knuchel ein – dass wir unser gesamtes Bankgeschäft online abwickeln, sei vor Jahrzehnten noch unvorstellbar gewesen.
Darunter fällt auch die Nutzung von Augmented Reality, also computergestützer, virtueller Realitätserweiterungen. So kommen schon jetzt AR-Brillen bei der Kommissionierung zum Einsatz: Die Datenbrille liefert Informationen – wie Produktbezeichnung, Koordinaten oder Menge – zu den zu entnehmenden Produkten und erleichtert so die Behandlung von Bestellvorgängen („Pick-by-Vision”).

Schuhe aus dem Drucker

Neue Technologien kommen laut den Studienautoren künftig nicht nur bei logistischen Herausforderungen bzw. in der Supply Chain zum Einsatz.

Der 3D-Druck habe bereits Einzug in die Einzelhandelsbranche gefunden, speziell in der Schuhmode arbeiten namhafte Unternehmen wie Adidas und Nike damit. In der Außenwahrnehmung stecken 3D-Drucker noch in den Kinderschuhen, doch für 2030 werde branchenintern bereits mit einem Marktvolumen von 2 Mrd. € gerechnet.

Virtual Reality

Im Gegensatz zu AR-Brillen, die die Realität um virtuelle Informationen anreichern, liefern VR-Techniken eine gänzlich computergenerierte Darstellung einer virtuellen Wirklichkeit. Während im gesellschaftlichen Bild primär der Unterhaltungsaspekt der Technik dominiert, stelle sie auch „ein spannendes Instrument für Einzelhändler” dar, wie Bernhard darlegt. So habe sich der US-Einzelhandelsriese Walmart kürzlich um die Patentierung eines virtuellen Showrooms beworben.

Das Softwarekonzept soll Kunden ermöglichen, „mit einer VR-Brille und mit Sensoren ausgestatteten Handschuhen durch eine virtuelle Einzelhandelsfläche zu gehen und Ware direkt für eine Heimlieferung durch Online-Bestellung auswählen zu lassen”. Auch E-Commerce-Plattformen wie Alibaba oder Amazon arbeiten bereits mit der Technik und erforschen Anwendungsgebiete des VR-Konzepts.

Stationärer EH bleibt

Social und Mobile Commerce gewinnen massiv an Bedeutung: Die Einkaufsausgaben via Smartphone sind zwischen 2013 und 2018 von 200 auf 640 Mio. € gestiegen; gleichzeitig ist der Anteil der Online-Shops, die Soziale Netzwerke nutzen, erheblich gestiegen.

Bei aller Innovation, Digitalisierung, Entmaterialisierung: „Den stationären Einzelhandel wird es natürlich weiter geben –aber auf einer deutlich kleineren Fläche”, erwartet Kornberger. Er bleibe jedenfalls „ein fester Bestandteil des Omnichannel-Ansatzes”.

Herausforderungen der Zeit

Die Studienautoren fassen zentrale Herausforderungen zusammen: Die Kernzielgruppen verändern und fragmentieren sich, der hybride Kunde des 21. Jahrhunderts erweist sich als schwer kalkulierbar. Leerstände an Top-Lagen sind Alltag.

Händler haben mit neuen Mitbewerbern und deren neuen Konzepten zu kämpfen. Der stationäre Handel bekommt die hohen Zuwachsraten im Online-Handel zu spüren. „Handel ist Wandel – und Schuh- und Modebranche sind jene Bereiche, die am stärksten betroffen sind”, fasst Kornberger zusammen.

Der Kunde ist König

Wer überleben will, so Kornberger und Bernhard, der müsse den Kunden ins Zentrum stellen („Customer Centricity”) – und nicht Produkte, Prozesse oder das Unternehmen.

Es brauche vor allem ein klares strategisches Setting mit definierter Kernzielgruppe. „Unternehmer dürfen strategische Fragen nicht mit operativen Aktivitäten beantworten”, so Kornberger. Wichtig sei ein stetes, kritisches Hinterfragen, ob das aktuelle Geschäftsmodell auch in Zukunft noch relevant sei.
Der Modehandel ist unter Druck, Konzerne kämpfen ums Überleben. Schlagzeilen machte zuletzt Charles Vögele, das im Mai Konkurs in Österreich anmeldete. Umdenken ist angesagt – man darf gespannt sein, was der Branche einfällt.

BEWERTEN SIE DIESEN ARTIKEL

TEILEN SIE DIESEN ARTIKEL